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Evangelische Gemeinde Pulheim lud zum Podiumsgespräch über das Kunstprojekt der Synagoge Stommeln ein, die Meinungen waren geteilt: Gigantomanie, Tabubruch oder ‚letale Dosis‘?

Über das Kunstprojekt von Santiago Sierra im März diesen Jahres in der Synagoge von Pulheim-Stommeln war nicht nur in den Feuilletons der regionalen Zeitungen zu lesen, Berichte und Kommentare darüber schafften es bis auf die Titelseiten der bundesdeutschen und internationalen Presse. Jetzt hat die Evangelische Kirchengemeinde Pulheim, Bezirk Stommeln, unter dem Titel „Kontrovers – Kunst im Kreuzfeuer der Kritik“ ein Podiumsgespräch mit Aussprache veranstaltet, die erste öffentliche Diskussion überhaupt zu Sierras Kunstprojekt und dessen Wirkung. Rund 80 Menschen kamen – vielen von ihnen war das dringende Bedürfnis anzumerken, sich jenseits der emotionalen Debatten der letzten Wochen zu informieren und auszutauschen. Volker Meiling, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Pulheim-Stommeln, hoffte, dass man sich der Thematik von einer anderen Seite nähern könne, als dies in anderen Foren passiert sei. Verständlicherweise gelang dies aufgrund der zuvor breiten Berichterstattung und vielfältigen Leserreaktion in der Presse nur bedingt. Wirklich neu waren wenige Sichtweisen und Argumente. Gleichwohl versammelte die von Pfarrer Marten Marquardt, Leiter der Melachthonakademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, moderierte Veranstaltung interessante, unterschiedlichste Positionen, von entschiedener Ablehnung des Projekts bis hin zu uneingeschränkter Zustimmung.


Zur Geschichte: „kultische und außerkultische Nutzung“
1991 begründete die Stadt Pulheim die Reihe der Kunstinstallation in dem Ende der 1970er Jahre wieder „entdeckten“ und 1979 von ihr erworbenen jüdischen Gotteshaus. Seither werden einmal jährlich international renommierte Bildhauer, Installationskünstler und Maler eingeladen, auf diesen besonderen Ort, auf seine Historie und Atmosphäre einzugehen. Alle fünfzehn Künstlerinnen und Künstler seither, von Jannis Kounellis über Richard Serra, Georg Baselitz, Eduardo Chillida, Rebecca Horn, Guiseppe Penone, Rosemarie Trockel und Richard Long bis Sol LeWitt, haben diese Aufgabe mehr oder weniger markant gelöst. Ihre unterschiedliche Herangehensweise, ihr individueller Umgang mit „der Würde des Raumes“ und dessen Symbolik haben den Kultus- und Kulturort in Stommeln zusätzlich zu einem bemerkenswerten Kunstort weit über die Region hinaus gemacht.
Marquardt machte mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Stommeln vertraut: Klein fingen die Bauten der Synagoge an, wurden mehrfach neu errichtet – bis zu dem heute noch erhaltenen Gebäude, von Anfang an als „besonders schöner Backsteinbau“ konzipiert . Nachdem die letzte jüdische Familie 1928 nach Köln gezogen sei, habe man die hiesige Gemeinde aufgelöst, referierte Marquardt. 1937 sei die Synagoge von der Synagogen-Gemeinde Köln an einen Stommelner Bürger verkauft worden, mit der auch für alle weiteren Eigentümer geltenden Auflage, das Gebäude niemals als Stall zu nutzen und seine Würde zu bewahren. Nachdem es den Novemberpogrom 1938 unbeschadet überstanden habe, sei der neoromanische Backsteinbau nach und nach in Vergessenheit geraten und verfallen. Nach seiner Wiederentdeckung habe man die Synagoge restauriert und das noch immer aktuelle Konzept entworfen: „Es sieht eine kultische und außerkultische Nutzung vor.“
1983 habe man das jüdische Gotteshaus unter Teilnahme von Vertretern der Synagogen-Gemeinde Köln wieder eröffnet. „Das letzte der hochgeachteten Kunst-Ereignisse hat jetzt Protest erweckt“, brachte der Gesprächsleiter die Versammlung zurück auf den Anlass der Veranstaltung. „Der zentrale Punkt der Kritik lautet, die Würde des Ortes sei verletzt worden.“

Das Kunstprojekt von Santiago Sierra
Für März 2006 hatte die Stadt Pulheim den spanischen Künstler Santiago Sierra (Jahrgang 1966) eingeladen, sein Kunstprojekt in der Synagoge Stommeln zu realisieren. Sein Beitrag „245 Kubikmeter“, so der auf das Hohlmaß des Gebäudes bezogene Titel, beinhaltete das Einleiten von Autoabgasen in die Synagoge. Besucherinnen und Besucher konnten nur einzeln, geschützt mit Atemschutzmaske und begleitet von einem Feuerwehrmann, in diese lebensgefährdende Kohlenmonoxid-Konzentration eintreten. Damit wandte Sierra sich „gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust“. Sein Projekt wurde vom Zentralrat der Juden als „eine Beleidigung der Opfer“, so Generalsekretär Stephan Kramer, scharf verurteilt. Ebenso verlangten die Synagogen-Gemeinde Köln und nicht nur jüdische Einzelpersonen die Einstellung von Sierras Projekt. Aufgrund der Protestwelle setzte die Stadt Pulheim die Ausstellung einen Tag nach ihrer Eröffnung zunächst für das folgende Wochenende aus. Wenige Tage später, noch vor einem geplanten Gespräch zwischen Künstler und Vertretern der Synagogen-Gemeinde, wurde sie von Sierra eingestellt.

Sind wir „Gedenken gesättigt „?
Auf Marquardts Frage nach der Absicht Sierras erwiderte Meiling, dass er sich eigentlich nicht so kompetent fühle zu sagen, was der Künstler gedacht habe. „Sinn des Kunstwerks ist oder war die Erinnerung an den Holocaust. Das Gedenken an den Holocaust versucht immer eine Annäherung an das Unfassbare zu leisten.“ Dies gelte für entsprechende Kunstwerke, Museen und andere Mahn- und Gedenkstätten. „Gedenkveranstaltungen gehören zu unserem Jahreskreis.“ Dies habe zur Folge, dass wir mit Gedenken gesättigt seien. Dabei beschränke sich unser Gedenken oft auf die intellektuelle Ebene, auf ästhetische Kategorien. „Man findet das alles ergreifend und doch wieder nicht. Sierra wollte unser Gemüt berühren.“ Um diese Wand zwischen den Ebenen durchbrechen zu können, müsse ein solches Kunstwerk uns zu nahe kommen. „Damit wir nicht im Intellektuellen stehen bleiben.“ Provokation und Verletzung von Tabus gehörten dazu. „Die emotionale Debatte gehört mit zum Kunstwerk.“ Die Kontroverse, die aus der Tabuverletzung komme, sei selbst Kunst, verwies Meiling darauf, dass auch die laufende Veranstaltung „also Kunst ist“. Einige würden dies als albern abtun. Man könne aber auch fragen, „wie verroht, abgestumpft unsere Gemüter sind, dass so etwas nötig ist, um uns zu berühren“. Aber in diesem Fall sei die Kunst den Opfer zu nahe getreten und habe verletzt, wo sie nicht verletzten dürfe, bedauerte Meiling, dass Sierra dies unbeachtet gelassen habe. Das Synagogen-Projekt bezeichnet Meiling allerdings als missglückt: „Zu platt, zu direktiv. Es lässt mir keinen Freiraum zu eigenen Empfindungen und stupst mich mit der Nase drauf, was ich fühlen muss.“ Wichtig aber sei festzuhalten: Das Nachdenken über den Holocaust sei defizitär, weil wir uns nicht mehr emotional berühren ließen.

„Würgegriff der Vereinnahmung“
Podiumsnachbar Dr. Martin Bock, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Pulheim-Sinnersdorf und Ökumenepfarrer des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, antwortete auf Marquardts Frage nach dem Grund des Protests: „Das Kunstwerk kreist um sich selber, gewollt oder ungewollt.“ Sierra gehe es um eine andere Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Verstörend sei dieses „zu Allgemeine“, das gleichzeitig Alles und Nichts zuläßt. Als evangelischer Theologe betonte Bock auch, wie wichtig es sei, zwischen den Selbstbildern von „Opfervolk“ und „Tätervolk“ zu vermitteln. Die Synagoge in Stommeln sieht er – noch immer – als jüdischen Gottesdienstraum wie auch als allgemeinen Gedächtnisort. Sie sei aber nicht allein Sache der jüdischen Gemeinde. „Den Protest gegen Sierras Arbeit sehe ich darin begründet, dass das Geschehen von Auschwitz nachgestellt werden soll.“ Aber der Versuch, dieses Geschehen einholen zu wollen, treffe zwangsläufig auf das völlige Unverständnis der Opfer. „Erinnerung muss Abstand halten.“ Wer als Zuschauer die Opferrolle simuliere, der vereinnahme die Opfer und den Raum, „der immer noch mit dem jüdischen Gottesnamen besetzt ist und sein soll“. Viele könnten sich nicht, wie von Sierra intendiert, als Teil eines Kunstwerks begreifen, weil sie reale Opfer seien, sprach Bock vom unguten Gefühl, vom Würgegriff der Vereinnahmung.

Nehmen Stommelner Bürger  die Kunst in der Synagoge wahr?
Wie Marquardt, Meiling und Bock hatte auch der vierte Theologe auf dem Podium, Walter Schmickler, Sierras Ausstellung nicht mit eigenen Augen gesehen. Von der Veranstaltung in der Kreuzkirche erhoffte sich Pfarrer der Katholischen Pfarrgemeinde St. Martinus in Stommeln, ruhige und sachliche Beiträge, eine Gelegenheit jenseits allein verfasster, kontroverser Leserbriefe gemeinsam miteinander ins Gespräch zu kommen. Schmickler gestand zunächst seine Schwierigkeiten im Umgang mit den Begrifflichkeiten: Ist es ein Projekt, ein „event“, ein Kunstwerk? Außerdem hänge Sierras Projekt ab von der Beteiligung der Besucher. „Erst, wenn einer die Gasmaske aufsetzt, geht das los“, meinte Schmickler. Er finde es gut, wenn Kunst zum Mitmachen einlade.  Sierra habe an den Tod heranführen wollen, „mit happy end, nur mal gucken, wie es sich anfühlt“. Es bleibe die Frage, ob ein Gotteshaus dadurch entweiht werde. Und: „Wie, wo und mit welchen Menschen darf ich was machen? “ Die Stommelner Bürger würden die Synagoge eher selten wahrnehmen, unterstellte Schmickler. „Die meisten Bürger hier haben die Kunstwerke nie gesehen.“ Dafür erhielt er Zustimmung und Gegenrede.

Pro und Contra: Gigantomanie, Tabubruch oder „letale Dosis“?
Viele Menschen meldeten sich zu Wort: Stommelner Bürger, Menschen aus Köln, die oft aber auch einen Bezug zu Stommeln hatten, Geschichtslehrer, Künstler, Alte und Junge, Kenner der Kunstprojekte in Stommeln, Augenzeuginnen und Nichtbesucher von Sierras Projekt. „Das Kunsterlebnis ist das Ganze gewesen, nicht nur das Gas im Raum, sondern die gesamte Organisation der einzelnen Elemente, vom Wachmann vor der Tür bis zum Aushang am Tor“, versuchte ein Kölner Künstler Verständnis für diesen Beitrag zur Gedenkkultur zu wecken.
Ein anderer kritisierte das „problematische Werk“, weil es für die unaufhörliche „Suche und Sucht nach einem immer stärkeren künstlerischen Reiz“ stehe. Das Ergebnis sei aber eine immer größere Abstumpfung, empfand er Sierras Projekt als ein Beispiel für solche Gigantomanie.
„Die Verletzung von Opfern ist nicht das Erste, was mir eingefallen ist“, so eine „angewiderte“ Bürgerin. „Man kann Sierra nicht unterstellen, dass er das so gemeint hat.“ Aber gebe es nicht so etwas wie die Vergewaltigung eines Raumes, fragte sie und verwies auf das perfekte Funktionieren-Müssen der einzelnen Projektschritte. Diese aufscheinende Perfektion von der Montage des Schlauches bis zur Abdichtung des Raumes habe sie an die Todes-Maschinerie der Nazis erinnert. Sie gab zu bedenken, dass bislang jedes der Kunstprojekte in Stommeln „vom Gedenken gedeckt“ gewesen sei. Die Frage, ob eine Arbeit in der Synagoge gelungen oder misslungen gewesen sei, habe sie bisher leider nie gehört.
Einem älteren Gast, ebenfalls regelmäßiger Besucher der Stommelner Kunstprojekte , war aufgefallen, dass man noch nie so viel über ein Synagogen-Projekt gesprochen habe, auch und gerade „vor Ort .“ Er sei „sehr ergriffen“ gewesen, ohne den Raum betreten zu haben, denn: „Ich habe auch so begriffen, was gemeint war.“
Eine ehemalige Lehrerin nahm den Begriff  „Tabubruch“ auf und merkte an: „Eine Gesellschaft, in der es Tabus gibt, die ist faul.“ Bock gab zu bedenken, dass Tabubrüche und Vergewaltigungen schon lange vor der Realisierung des Kunstwerks stattgefunden hätten. Der Raum sei schon vergewaltigt worden, den Juden und Synagogen in Europa sei Vergewaltigung bereits widerfahren. „Die ganze jüdisch-christliche Geschichte ist eine Geschichte von Tabubrüchen.“ Als Kirchengemeinde sei es wichtig, dies nicht zu vergessen. „Wenn das Kunstwerk hilft, das nicht zu vergessen, ist das gut.“
Als elitär beschrieb ein anderer Teilnehmer seine Wahrnehmung des Synagogen-Projekts. „Als sie anfingen, war das ganz toll, paßte zum Ort, zur Synagoge. Jetzt habe ich das Gefühl, dass es einer immer größeren Dosis bedarf, um das Publikum anzuziehen“, bezeichnete er Sierras Projekt als „letale Dosis“. Das Projekt spreche nur eine kleine Minderheit an, es sei tot, sprach er sich gegen dessen Fortführung, gerade auch im Hinblick auf die nicht eben rosige Haushaltslage der Stadt Pulheim.

„Das Projekt soll auf keinen Fall eingestellt werden“
„Ich hoffe, das war nicht die letzte Ausstellung in dieser Reihe“, will dagegen Meiling das Projekt nicht missen. Bezug nehmend auf die kommunalen Finanznöte hofft er, dass die Stadt trotzdem das Projekt weiter voran treiben und gleichzeitig andere von Schließung bedrohte Kultureinrichtungen erhalten könne. Auch Schmickler sprach sich nachdrücklich für eine Fortsetzung aus. In der engen Verbindung von Gebets- und Kunstraum sehe er kein Problem. Denn man könne in der Kunst einen Ausdruck finden, der dem Gebet sehr verwandt sei. „Das Projekt soll auf keinen Fall eingestellt werden“, unterstrich Bock. Er fragte: „Warum darf Kunst nicht mal misslingen?“ Gerade die sehr unterschiedlichen, spannenden Beiträge in der Synagoge würden zeigen, wie „dünn das Eis ist“. Die Kunst könne einiges zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen aufbrechen, was nicht geklärt sei.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich