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Ernstes Thema beim ‚Go-Special‘ in Wesseling: Gottesdienst und Predigt rund um das Thema Sucht

Auf dem Altar der Wesselinger Apostelkirche lag ein Würfel, davor standen Reklame für Schmerzmittel sowie diverse Symbole zum Thema Sucht: Computerspiele, DVDs, Süßigkeiten, Reinigungsmittel, Pillen und Tropfen. „Sucht – Der Stoff aus dem die Träume sind“ war der Oktober-„GoSpecial“, der „etwas andere Gottesdienst“ der Evangelischen Kirchengemeinde Wesseling überschrieben, der wieder großes Interesse fand.


„Wo hört die Gewohnheit auf, wo fängt die Sucht an?“, fragten eingangs Manuela Dreher und Heinz Schmickler. Beim regelmäßigen Glas Wein am Abend, bei der Arbeit, die ich übers Wochenende mit nach Hause nehme? Viele Gewohnheiten gehörten gar nicht zu den Süchten, würden nicht als solche bezeichnet, meinten die beiden Moderierenden vor gut 300 Besuchenden. Und es sei ja bekannt, dass die guten Vorsätze von Silvester nicht lange bestehen würden: „Nicht wir bestimmen, sondern etwas bestimmt über uns.“ Ein ernstes Thema, darum sei es wichtig, es auch in der Kirche, im Gottesdienst zu thematisieren.

 

Computer,- Diät-und Fitnesssüchtig

Welche negativen Auswirkungen Süchte etwa auf Lebensgemeinschaften haben können, zeigte Pfarrer Rüdiger Penczek mit einer Partnerin in einer Spielszene. „Edgar, kommst Du bitte zum Essen“, fordert sie auf. Doch Edgar hat Wichtigeres zu tun, muss sich am PC mit „Killerquallen“ herumschlagen. Den Vorwurf seiner Frau, Computerspiel-süchtig zu sein, kontert er mit der Behauptung: „Ich glaub´, Du bist magersüchtig, bist auf einem Diät- und Fitness-Trip.“ Sein Frust gipfelt in der Feststellung: „Die Computer sind überhaupt kommunikativer als Du.“ Der Schluss des kurzen Stücks über mangelnde Verständigung ist halbwegs versöhnlich. Man einigt sich auf einen Besuch beim Italiener – auch wenn die Partnerin dann doch wieder warten muss, weil noch schnell die „Killerqualle“ zu bändigen ist.

 

(Er)kenntnisreicher Vortrag von  Manfred Lütz

Vorbereitet und durchgeführt wird der „GoSpecial“, der besondere Gottesdienst, der in Wessling regelmäßig stattfindet, jedes Mal von rund 25 Ehren- und Hauptamtlichen aus der evangelischen Gemeinde wie von katholischen und konfessionslosen Nachbarn. Die moderierten Beiträge waren wie immer eingebettet in Musik, Überraschendes vom Band, wie etwa die „Zehn kleine Jägermeister“ von den Toten Hosen. Gäste sind immer dabei. Diesmal konnte Dr. Manfred Lütz gewonnen werden, Facharzt für Psychologie und Psychiatrie, katholischer Diplom-Theologe, Rheinländer, „natürlich linksrheinisch“, aus Bornheim-Merten. Mit einer satirisch-launigen, spannenden wie (er)kenntnisreichen und, wo notwendig, ernsten Predigt zum Thema Sucht, Gesundheit und LebensLust zog er die Zuhörenden rasch in Bann. Verdientermaßen erntete er tosenden Applaus.


Dem mittelatlerlichen Menschen ging es besser

Heute gebe es ungleich mehr Therapiemöglichkeiten, stellte Lütz, ehemaliger Leiter einer Suchtklinik und derzeitiger Chefarzt fest, „trotzdem nehmen die Süchte zu.“ Die Ursachen würden oft weit weg gesucht: In der Politik, der schlechten Wirtschaftslage…  Andere erklärten den Anstieg von Süchten mit dem Rückgang der Kirchgänge. „Auch hier wird Sucht instrumentalisiert“, erklärte Lütz. In der Psychotherapie habe jedoch ein Perspektivenwechsel stattgefunden: „Wir suchen heute nach den Ressourcen der Patienten, ihren Fähigkeiten.“ Süchte entstünden aber auch durch die Suche nach der Produzierbarkeit des Glücks. Der mittelalterliche Mensch sei besser dran gewesen, habe seine Lebensrestzeit und das ewige Leben gehabt. Wir dagegen seien nur auf unser irdisches Leben fixiert. In dieser begrenzten Zeit seien wir dem Glück auf der Spur, sprach Lütz vom Utopie-Syndrom, das unsere Gesellschaft durchwirke. Doch eine Idealsituation sei gar nicht produzierbar.

 

Der Erfolg liegt nicht in der strikten Abstinenz
Der Mediziner ging auf die Dynamik des Jugendwahns ein, die zunehmende Isolation, Selbstverliebtheit und Beziehungsunfähigkeit sowie die Suchtproblematik in uns selber. „Es gibt keine technische Lösung des Problems“, sagte er, auch nicht über strikte Abstinenz. Entscheidend sei nicht, dass man keinen Alkohol mehr trinke, sondern sich frage: „Was kann ich statt dessen tun?“ In Riten eingebundener Drogenkonsum, wie etwa bei Naturvölkern üblich, habe weit weniger suchtartiges Verhalten zur Folge. Wir dagegen hätten die Süchte privatisiert. Gesundheit sei zur Religion erhoben worden, kritisierte Lütz. „Die Menschen leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wenn man gesund stirbt, ist man definitiv tot.“

 

„Der Moment ist nicht wiederholbar“
Was man früher für Gott getan habe – gefastet, sich auf Wallfahrt begeben -, tue man heute für seine Gesundheit. Sie herrsche als höchste Gut. Einer Arzt- und Therapeutenschwemme stehe ein Mangel an Priestern und Geistlichen entgegen. „Das Heil erwartet man vom Psychotherapeuten“, spitzte Lütz zu. „Gesund ist eine Person, die nicht ausreichend untersucht wurde“, prangerte er den Gesundheits-Wahn als scheinbar absolute Größe an, da werde Gesundheit als herstellbare Ware suggeriert, nach dem Motto „wer stirbt, ist selber schuld“. „Wer heilt, hat recht“, sieht Lütz in der Gesundheits-Maschinerie die weltweit mächtigste und teuerste Religion. Dabei habe der Gesundheits-Trubel katastrophale und zynische Folgen, nannte er etwa die Problematik von Euthanasie und Stammzellen-Forschung. Auch Krankheit, Leid und Schmerz könnten Quellen, Chancen des Glücks im Leben sein. „Das Wesentliche ist, dass wir lernen, mit unserem Leben anders umzugehen, um Sucht zu vermeiden“, sagte Lütz. Dazu könne auch beitragen, dass man etwa einen Waldspaziergang oder die Melodie im Autoradio einfach nur genieße, ohne zwanghaft zu überlegen, wo man die CD kaufen und damit den wunderbaren Moment wiederholen könne. „Der Moment ist nicht wiederholbar. Während wir das Leben vorbereiten, läuft es vorbei.“

Auch Kinder sind bei „GoSpecial“ eingebunden
Im anschließenden Kreuzverhör beantwortete der Gast-Prediger Publikumsfragen. „Ich halte nichts von der Vermischung von Therapie und Seelsorge“, machte er deutlich. Ebenso erteilte er der einstigen therapeutischen „Heilsvorstellungen“ eine Absage, nach denen nur Abstinenz gut, alles andere schlecht sei. Abstinenz könne ein Ziel sein, Kontrolle ebenfalls. Voraussetzung im Gespräch mit dem Patienten sei nicht, dass er seine Sucht erkenne. Zuvorderst müsse immer die Frage nach seinen Zielen stehen. Nach dem Schlusslied setzte sich das Programm im benachbarten Begegnungszentrum, wo Jugendmitarbeiter Andreas Meinert zuvor zahlreichen Kindern das Thema näher gebracht hatte, mit Gesprächen und Imbiss fort.

 

Der nächste GoSpecial findet statt am 26. März 2006. Dann lautet das Thema „Ein unmoralisches Angebot! Sind wir nicht alle käuflich?“.

 

 

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich