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„Erinnerung ist unsere Aufgabe“

Ein schickes Restaurant bietet Ausblick auf einen kleinen Platz zwischen einem Wohnblock und dem Hotel Pullman, in dem gerade das Dreigestirn residiert. Um den Löwenbrunnen herum drängt sich dort an diesem kalten Januarmittag eine Gruppe Menschen, darunter auffallend viele Senioren und Teenager, um der rund 1.100 aus Köln in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten deportierten jüdischen Kinder und Jugendlichen zu gedenken.
Der 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. In Köln veranstalten die Synagogen-Gemeinde Köln, das Katholische Stadtdekanat und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region in Verbindung mit dem Arbeitskreis „Lern- und Gedenkort Jawne“ an diesem Tag eine Gedenkveranstaltung für aus Köln deportierte jüdische Kinder. Veranstaltungsort ist der Erich-Klibansky-Platz mit dem Löwenbrunnen, an dem sich bis 1941 ein jüdisches Gymnasium, die Jawne, befand. Die Veranstaltung wurde auch 2011 wie jedes Jahr von Schülerinnen und Schülern mitgestaltet.

„Da ist Aufklärung nötig“
Für die Lehrerin Michaela Schlömer und ihre Sechstklässler ist der Ort nicht unbekannt. Die Schüler der Förderschule am Thymianweg in Höhenhaus haben sich sowohl mit dem Thema „Judentum“ als auch mit der Judenvernichtung im Religions- und Ethikunterricht auseinandergesetzt. „Das Thema ist in der sechsten Klasse eigentlich noch nicht aktuell. Aber die Schüler hören davon, wissen nicht, was gemeint ist, und fragen. Da ist Aufklärung nötig“ weiß Schlömer. Im Unterricht hat sie mit den Schülern das „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar“ von Tamar Dreifuss gelesen, in dem diese schildert, wie sie den Holocaust in Osteuropa überlebte. Auch den Löwenbrunnen hat sie mit den Schülern bereits vor der Gedenkfeier aufgesucht. Dort haben sie die im Brunnenrand eingravierten Namen der deportierten jüdischen Kinder und Jugendlichen abfrottiert. Das Unterrichtsthema öffnete vielen die Augen für ihre Umgebung: Joyline, 12, entdeckte zum ersten Mal in ihrem Wohnviertel einen der bekannten „Stolpersteine“ von Gunter Demnig.

Hebräisch und Deutsch
Neben den Schülern der Förderschule am Thymianweg konnten der Schulreferent des Evangelischen Kirchenverbands Köln und Region, Rainer Lemaire, und Pfarrerin Ulrike Gebhardt auch Elftklässler der Willy-Brandt-Gesamtschule aus Höhenhaus und Neuntklässler der Hauptschule Mechernich begrüßen.
Ohne eigenen Beitrag nahmen Schüler der Kaiserin-Augusta-Schule freiwillig teil. Nach einem Beitrag des Schalom-Chores der Synagogengemeinde eröffneten Ruth-Rebecca Fischer-Beglückter und Stadtsuperintendent Rolf Domning die Gedenkfeier mit dem 79. Psalm, von Fischer-Beglückter gelesen auf Hebräisch, von Domning auf Deutsch. Fischer-Beglückter hat eine besondere Beziehung zu dem Ort, denn sie ist eine ehemalige Schülerin der Jawne, konnte aber bereits 1938 emigrieren.

Erinnerung ist unsere Aufgabe
In seiner anschließenden Rede betont Domning die Wichtigkeit des Erinnerns: „Auch, wenn die meisten von uns später geboren sind, dürfen wir nicht verleugnen und verharmlosen“. Allen Ansätzen in dieser Richtung erteilte Domning eine klare Absage, ebenso wie Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes in ihrem Grußwort, in dem sie betonte: „Es gibt Menschen, die sagen `jetzt muss es gut sein´- die wollen verdrängen“ und zitierte Heinrich Böll: „Erinnerung ist unsere Aufgabe“.

Kampf um ein Glas Wasser
Letztlich gehörte die Gedenkstunde den Schülern und ihren Beiträgen: „Wir wollen Namen der Kinder verlesen, deren Leben so schrecklich endete und für die es keinen Grabstein gibt“ eröffneten die Schüler vom Thymianweg ihren Beitrag. Bei einem Besuch im NS-Dokumentationszentrum hatten sie das Alter, das die Kinder erreicht hatten, recherchiert und trugen ihren Altersgenossen vor, wie viele der Deportierten im Grundschul- oder Kindergartenalter ermordet wurden.
Drastischer wurden die Neuntklässler der Städtischen Hauptschule Mechernich. An ihrer Schule gibt es seit Jahren einen Arbeitskreis, der das Gedenken an deportierte Juden aus Mechernich und Kommern pflegt. Zur Gedenkstunde verlasen sie den Bericht eines Überlebenden über den Leidensweg im Eisenbahnwaggon ins KZ, die Hitze, den Gestank, die Diebstähle der Bewacher und den Kampf um ein Glas Wasser. Symbolisch schöpften sie anschließend für jedes Opfer, dessen Namen sie verlasen, einen Becher Wasser aus dem Löwenbrunnen.
Erstmalig dabei war Waltraud Blümcke mit Elftklässlern der Höhenhauser Willy-Brandt-Gesamtschule. In ihrem Deutschunterricht war Lizzie Dorons Porträt ihrer Mutter, „Warum bist Du nicht schon vor dem Krieg gekommen?“, der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit jüdischer Literatur. Zur Gedenkstunde lasen mehrere Schülerinnen Paul Celans „Todesfuge“ und Nelly Sachs´“Chor der Geretteten“.
Nach den Schlussgebeten von Jaron Engelmayer, Rabbiner der Kölner Synagogengemeinde, der auch den 110. Psalm vortrug, und Pfarrer Klaus-Peter Vosen, nutzten viele Besucherinnen und Besucher die Gelegenheit, sich bei einer Tasse Kaffee aufzuwärmen. Gelegenheit dazu gab es am Erich-Klibansky-Platz in den Räumen des Lern- und Gedenkorts „Jawne“. Großformatige Fotos der Ausstellung „Die Kinder auf dem Schulhof nebenan“ erinnern dort an Schüler des früheren jüdischen Gymnasiums, von denen viele dank der Bemühungen des Rektors, Erich Klibansky, nach England fliehen konnten.

Emotionaler Zugang
„Mir hat es gefallen, aber meine Freundin hat geweint, ich musste sie trösten“ erinnert sich Joyline. Dass die Schüler einen emotionalen Zugang zum Thema gefunden haben, davon ist auch Michaela Schlömer überzeugt: „Wir sind jetzt an dem Punkt angekommen, dass die Schüler sagen: Wenn so etwas in meiner Umgebung passiert, muss ich hingehen“. Sie konnte in der Klasse einen stärkeren Gemeinschaftsgeist und einen freundlicheren Umgang untereinander feststellen.
„Ich finde, es ist etwas Besonderes, dass sich Förderschüler so intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Man merkt, dass sie das Thema emotional anrührt“ ist auch Rainer Lemaire überzeugt. „Mir ist es wichtig, dass sich Schüler aller Schulformen damit beschäftigen. Darum finde ich es gut, dass heute Schüler so vieler unterschiedlicher Schulformen hier sind“.
Ganz abgeschlossen ist das Thema für Michaela Schlömer und ihre Klasse noch nicht: Als nächstes steht ein Besuch der Jüdischen Grundschule in Ehrenfeld auf dem Programm, um zu zeigen, dass es heute wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt.

Info
Der Lern- und Gedenkort Jawne, am Erich-Klibansky-Platz, ist dienstags von 11 bis 14 Uhr und sonntags von 12 bis 16 Uhr sowie nach Vereinbarung geöffnet. Der „Arbeitskreis Jawne“, der den Lern- und Gedenkort betreibt, geht zurück auf eine Initiative des Ehepaars Irene (+2005) und Dieter Corbach (+1994). Beide begannen in den 80er Jahren mit intensiven Recherchen die Geschichte der vertriebenen und ermordeten Kölner Juden aufzuarbeiten. Ihre umfangreiche Materialsammlung befindet sich im Besitz des NS-Dokumentationszentrums.

Der Löwenbrunnen wurde 1997 am Ort des ehemaligen jüdischen Gymnasiums errichtet. Geschaffen wurde er von Hermann Gurfinkel, einem ehemaligen Schüler. Er gehörte zu den rund 130 Kindern und Jugendlichen, die dank der Initiative des Rektors Erich Klibansky 1938 nach Großbritannien flüchten konnten.

Text: Annette v. Czarnowski
Foto(s): v. Czarnowski