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„Erbsensuppe ohne Speck“ – eine Buchbesprechung über das Gulliver, die Kölner Überlebensstation für Obdachlose

Die „Überlebensstation Gulliver“ ist ein niedrigschwelliges Angebot, von Anfang an konzipiert als „Einstieg in eine Kölner Hilfskette für Obdachlose“. Es bietet in einem Bahnbogen unter dem Kölner Hauptbahnhof Duschen, ein Café, warme Essen, Waschmaschinen, Telefone, Wärme, eine Kleiderkammer, ein Minimum an medizinischer Betreuung, Schließ- und Postfächer, Internetzugang und viel mehr Platz als die meisten anderen Obdachloseneinrichtungen für Hunde. Kunst und Musik gehören ebenso zum Konzept wie die selbstverständliche Wahrung der Würde von Menschen, die auf der Straße leben. Wer hier arbeitet, hat in der Regel selbst schon einige Jahre „Platte“ hinter sich, auf jeden Fall ist das Gulliver „sozialarbeiterfreie Zone“. Prominente Kölner wie Willy Millowitsch und später seine Witwe haben es unterstützt, die „Höhner“ tun es noch. Ins Leben gerufen wurde das Gulliver 2001 vom Vorstand des KALZ, des Kölner Arbeitslosenzentrums, Vorstandsvorsitzender des ehrenamtlichen Trägervereins ist Pfarrer Karl-Heinz Iffland (Evangelische Kirchengemeinde Köln-Ehrenfeld). Doch der Weg dorthin begann noch früher: „Service Design“ und „Design Management“ sind zwei Studienfächer der „Köln International School of Design„. Hier wurde vor 11 Jahren die Überlebensstation Gulliver geplant. Heute haben sich Studierende Fragen gestellt: Was ist daraus geworden? Funktioniert es? Wie wird es angenommen von den Menschen, für die es gedacht ist? Herausgekommen ist eine schön gestaltetes Büchlein über das Projekt, seine Besucher – und nicht zuletzt – über Situation und Lebensgefühl obdachloser Menschen in Köln.


Ein Ort, der die Würde der Gäste groß schreibt
„Einblicke in eine kaum bekannte Welt“, verspricht der Klappentext – und kommt diesem Versprechen schon beim ersten Betrachten mit seinen zahlreichen, unprätentiösen Fotos von Menschen am Rande unserer Gesellschaft und der Orte, an denen sie leben (müssen), nach. Noch wichtiger aber sind die Fragen des Buches, Fragen, die sonst selten jemand stellt – geschweige denn beantwortet. Etwa: „Wie muss eine Dienstleistung organisiert und gestaltet sein, damit sie für die „Kunden Obdachlose“ auch funktioniert?“ So wie das Konzept des „Gulliver“, so ist das Konzept dieses Buches – und das gibt auch gleich Antwort auf die oben gestellte Frage: Diese Dienstleistung muss auf einem Konzept basieren, „das die Würde der Gäste groß schreibt. Sie in ihren Bedürfnissen ernst nimmt. In der materiellen Gestaltung auf Qualität achtet.“ Nicht verschwiegen wird aber auch, dass es „viel Energie“ gebraucht hat, um dieses Konzept Realität werden zu lassen“. Eine kleine Befragung unter den Nutzerinnen und Nutzern macht klar, dass das Konzept im wesentlichen aufgegangen ist: Die wichtigsten Dinge sind und bleiben „Caféteria, Duschen und Wäschewaschen.“ Doch auch „Freunde treffen“, sich ausruhen oder aufwärmen können, werden häufig genannt. Was aber vielleicht den größten Ausschlag gibt, warum sich jemand eher im „Gulliver“ als in einer anderen Obdachloseneinrichtung wohlfühlt, sind die nur scheinbar „kleinen Nebensächlichkeiten“ wie der hygienische Zustand einer Dusche oder Toilette, der Kleiderhaken neben der Dusche oder die Ruhe beim Telefonieren.

Wie „eine Vision in die Welt geriet“
Thomas Münch – Sozialarbeiter und Diplom-Psychologe, der heute eine Professor an der Fachhochschule Düsseldorf hat, war damals als Leiter des Kölner Arbeitslosenzentrums (KALZ) stark am Zustandekommen dieser ungewöhnlichen Einrichtung beteiligt. Er beschreibt, wie „eine Vision in die Welt geriet“. Diese Vision, die hatten er und alle Mitstreiter, „eine bemerkenswerte Koalition aus Unternehmen und Sozialarbeit, aus Kirche und Stadtverwaltung, aus stadtbekannten Bekannten und unzähligen Unbekannten, aus Politik und Medien, aus Architektur und Hochschule.“ Münch kennt wahrscheinlich die meisten, ist er doch auch seit 1994 Sprecher der Kölner Armutskonferenz. Das Beharren auf der Vision, dem scheinbar Unmöglichen, das ist Münch wichtig: Was als Bild, als „Skizze“ begann, nahm – mühsam, aber sicher – Gestalt an: „Verkommene und längst geschlossene städtische Toilettenanlagen veränderten sich vor unseren Augen. Der abgestandene Geruch von Urin und Kot verwandelte sich in Kaffee- und Seifenduft…. So wurde aus dem Bahnbogen, einer ehemaligen Fahrkartendruckerei der Bundesbahn, ein eigenwilliger Ort.“

„Betteln ist erniedrigend und ermüdend“
Eigenwillig ist auch das jetzt vorliegende Buch: Auf braunem Papier Bilder und Worte von Menschen, denen viele noch immer am liebsten aus dem Weg gehen möchten. Sie erzählen aus ihrem Leben, wie sie nach Köln kamen – ohne Tabus. Da ist auch vom Klauen die Rede, von Drogen, von Schlägereien – vom Alltag auf der Straße eben. Fast niedlich dagegen liest sich der „Selbstversuch“ der Studenten, die sich zwölf Stunden lang versuchsweise als Obdachlose durch das kalte Köln schlagen. Ihre Erkenntnis, „dass Betteln erniedrigend und ermüdend ist und dass die meisten unserer Mitmenschen uns erschreckend gleichgültig gegenüberstehen“, überrascht nicht wirklich. „How good is good“ fragt Stefan Sagmeister, wirklich erfolgreicher Designer, der sich ein Jahr „Auszeit“ von seinem New Yorker Studio genommen hat, um seine Zeit nicht mehr der „Gestaltung cooler, sondern der Gestaltung bedeutsamer Dinge zu widmen.“ Unter „bedeutsam“ versteht er einen „sozialen Designer“, den er aber strikt von jenen „Gutmenschen“ unterschieden wissen will, die mit sozialem Engagement nur eigene Karrieren fördern wollen: „Gutmenscheln aus der Ferne, als eine Art Tourist, bringt nichts“, man müsse schon „Teil des Problems sein“, um zu einer vernünftigen Lösung zu finden. Doch der Mann ist Österreicher.

Weitere Visionen, Kölner Art
Und ob die Kölner Realität nicht vielleicht doch ganz andere Lösungen findet, nach Art der von Münch beschriebenen „Vision“, bleibt abzuwarten. Denn solche Visionen bietet das Buch schon: Etwa den „Gulliver Coin“ – eine Spende, die garantiert nicht in Alkohol oder andere Drogen umgewandelt werden kann. Oder das Gulliver als musikalisches Zentrum mit regelmäßigen Konzerten. Oder der Ausbau des zweiten Brückenbogens der Hohenzollernbrücke am Kölner Hauptbahnhof zu „Gullivers Hotel“, direkt neben der „Überlebensstation“. Natürlich ist das alles nur mit großem Einsatz, ehrenamtlicher Arbeit und Spenden möglich. Und mit einer Vision. Und wenn die Realität wird, ist es dann wirklich so ungewöhnlich? Oder ist nicht vielmehr, wie Thomas Münch schreibt, „dieses Ungewöhnliche die wirkliche Wirklichkeit?“

Das Gulliver erhalten – spenden
Ungewöhnlich ist nicht, dass dies alles ohne Spenden völlig unmöglich wäre. Ungewöhnlich ist eher, dass es Frauen gibt, die das ganze Jahr über für das Gulliver Socken stricken und verkaufen, dass immer noch jeden Monat die mindestens 2.000 Euro zum weiteren Betrieb der Überlebensstation zusammenkommen. Darum – ausnahmsweise – hier das Spendenkonto: Kontoinhaber: Kölner Arbeitslosenzentrum KALZ e.V., Bank für Sozialwirtschaft Köln, Bankleitzahl 370 205 00. Kontonummer 80 24 300. Verwendungszweck: GULLIVER.

Bezugsmöglichkeiten
Das Buch kostet 14,90 Euro und ist über den Buchhandel überall zu beziehen unter ISBN 3-9808573-6-0 oder per Mail bestellen: gulliverbuch@kisd.de

    

Text: Al-Mana
Foto(s): Köln International School of Design