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Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, Manfred Kock, ehemaliger Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Soziologie-Professor Dr. Armin Nassehi und Professor Dr. Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Kuratoriumsmitglied der Stiftung (v.l.).

„Eliten sind Gute-Gründe-Lieferanten“: Soziologie-Professor Dr. Armin Nassehi über die Corona-Pandemie

Manfred Kock hat langsam genug von der Pandemie: „Ich kann es nicht mehr hören. Immer nur Corona. Oft schalte ich das Radio aus, wenn es immer nur um dieses Thema geht.“ Der ehemalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland sprach zu Beginn der Vortragsveranstaltung mit Professor Dr. Armin Nassehi in der Melanchthon-Akademie. „Diese Pandemie greift so schwer in unser Leben ein.  Wie kann es gelingen, dass das, was wir erleben, nicht nur eine Katastrophe ist?“ Eingeladen zu dem Abend unter der Überschrift „Macht Covid-19 unsere Gesellschaft krank?“ hatte neben der Akademie die „Stiftung Allgemeinmedizin“. Professor Dr. Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Kuratoriumsmitglied der Stiftung, warf zu Beginn einen Blick zurück. „Wir möchten, dass sich in diesen Zeiten Experten und Bürger treffen und sich zuhören.“ Er lobte das hohe Ausbildungsniveau der Ärzte in Deutschland und die gute Zusammenarbeit zwischen den niedergelassenen Kollegen und den Krankenhäusern. Gerade die Hausärzte hätten sich bei leichten und mittleren Corona-Verläufen als Schutzwälle gegen die Überlastung der Kliniken erwiesen. „Wir müssen mehr Gelassenheit entwickeln im Umgang mit der Pandemie.“

Armin Nassehis Aufgabengebiete sind Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religionssoziologie, Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Vielfach preisgekrönt wurde er 2020 in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina aufgenommen. Er kündigte seine Ausführungen an als einen „Vortrag über die pandemische Gesellschaft mit soziologischen Mitteln“. Als Einstiegsfragen hatten die Einladenden vorab formuliert: „Wie und inwieweit „infiziert“ das Virus unser Sozialverhalten – und das unserer Kinder? Wird es unsere Freiheit und unsere Gesellschaft dauerhaft verändern? Wie schaffen wir es, daraus das Richtige zu lernen?“ Nassehi nannte Corona eine Störung. „Mich interessieren Störungen. Wie eine Gesellschaft funktioniert, verstehen wir am besten, wenn es gerade nicht so läuft. So gesehen sind wir Soziologen echte  Krisengewinnler.“

Eliten zu kritisieren, sei zu einfach

Nassehi ist Mitglied im bayerischen Ethikrat, der im Juni eine Stellungnahme abgegeben habe: „Wir haben damals die vierte Welle antizipiert. Man konnte erwarten, dass die Dinge nicht so bleiben werden wie im Sommer. Jetzt geben sich die politischen Entscheidungsebenen geben sich überrascht. Die Maßnahmen, die Markus Söder ergriffen hat, sind so streng, weil sie zu spät kommen.“ Die Verantwortlichen träfen keine Entscheidungen, wenn die Notlage nicht groß genug sei. Aber die Eliten zu kritisieren, sei zu einfach. Wenn man selbst an deren Stelle wäre, würde es nicht besser laufen. Auch wenn manche das dächten. Ein bisschen Demut sei angebracht. Man müsse Handlungsformen immer in Kontexten sehen. Und da sei die Politik Beschränkungen unterworfen. „Wir müssen in die Dynamik des Lebens eingreifen, um die Dynamik des Virus zu begrenzen.“ Nassehi hat nach eigenen Worten den ehemaligen NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet und Bundeskanzlerin Angela Merkel beraten.

„Warum wurde ein Soziologe gefragt, der vom Virus nichts weiß?“ fragte Nassehi rhetorisch und gab postwendend die Antwort: „Soziologen können erklären, was es heißt, Entscheidungen und Untersicherheiten zu treffen.“ Zu Beginn der Pandemie habe es Angst gegeben und keinerlei Proteste gegen den Lockdown. Die Exekutive habe durchregieren können. Nassehi fragte sich, ob das nicht „ein wunderbares Beispiel für den Umgang mit dem Klimawandel“ hätte abgeben können. Aber: „Freiheit ist eine Form der Entscheidung unter der Bedingung der Vernunft. Wir bitten Menschen, Abstände einzuhalten und Masken zu tragen. Aber viele halten sich nicht daran.“

Schwierig seien die häuslichen Umstände der Pandemie gewesen: „Viele sagen: Familien sind glücklich, weil sie zusammen sind. Richtig ist, dass sie glücklich sind, weil sie nicht zusammen sind.“

„Wie steuert man ein System, in dem konkurrierende Interessen vorhanden sind?“ In Corona-Zeiten funktioniere das am besten, wenn sich die Menschen an Regeln hielten, zu denen man sie nicht zwingen müsse. So könne man den Lockdown vermeiden. Das gelinge aber eher schlecht. Es sei eine sehr deutsche Diskussion, dass Impfen immer nur als Einschränkung der Freiheit des Einzelnen betrachtet werde. Das alles stehe in Verbindung mit Kritik an wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Was glauben Sie, wieviele Briefe ich von Studienräten bekomme, warum ein Lockdown keine Wirkung hätte. Und die Briefe sind lang. Aber gut, wenn sie die schreiben, sind sie wenigstens von der Straße. Die Schlauen sind übrigens meistens leiser als die anderen.“ Das menschliche Hirn, so der Soziologie-Professor, halte lange daran fest, dass schon alles gut gehe. „Das Wissen, dass der Klimawandel Millionen Menschenleben kosten kann, bringt uns nicht aus der Ruhe. Und die Kirchen mit ihren Strukturen tun auch immer noch so, als wären sie Volkskirchen.“ Es falle allerdings schwer, den Akteuren das moralisch vorzuwerfen.

Gegner einer allgemeinen Impfpflicht

Nassehi ist Gegner einer allgemeinen Impfpflicht. „Stellen Sie sich die Bilder vor, wenn da Leute von der Polizei vorgeführt werden.“ Der Soziologe befürwortet am eine verpflichtende Impfung für bestimmte Berufsgruppen. Beispielsweise in der Pflege. „Ich würde aber anfangen bei den Lehrern.“ Aber: „Je mehr wir tun müssen, um geimpft zu werden, umso schwieriger wird es. Unser Dilemma: Am Ende brauchen wir etwas, das von selber funktioniert.“ Nassehi wünscht sich viele kleine und dezentrale Impfzentren, die möglichst leicht zu erreichen sind. Das schaffe Motivation, die über die Einsicht in das Notwendige hinausgehe. Und dann seien doch wieder die Eliten gefragt: „Die sind Gute-Gründe-Lieferanten. Sie müssen Sätze liefern, die andere zitieren können und so tun können, als wären sie ihre eigenen Sätze.“ Im Dienst der guten Sache.

Nassehis Fazit: „Selbst eine so radikale Krise verändert eine Gesellschaft nur peripher. Sie hat allerdings die Fragilität und Vulnerabilität von Strukturen sichtbar gemacht. Die Corona-Krise ist keine Blaupause für die Bewältigung anderer Krisen.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann