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Eine Mutter – sieben Töchter

Sie ist die Keimzelle der evangelischen Gemeinden auf der rechten Rheinseite: die Evangelische Kirchengemeinde Mülheim am Rhein. 1610, vor genau 400 Jahren, fand dort der erste freie und öffentliche protestantische Gottesdienst statt – fast 200 Jahre früher als im linksrheinischen Köln, wo die evangelischen Christinnen und Christen ihren Glauben noch länger im Verborgenen leben mussten. Auf der anderen Seite des Rheins aber wurden Protestantinnen und Protestanten zunehmend akzeptiert, die Gemeinde wuchs beständig. Und nach einer Phase der Konsolidierung kam es dann dazu, dass sich von dieser Mülheimer „Urgemeinde“ weitere Kirchengemeinden abspalteten. Tochtergemeinden bildeten sich, insgesamt sieben Stück im Verlauf der 400-jährigen Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Mülheim am Rhein.

Zuzug von protestantischen Arbeitern
Den Anfang machten die Protestantinnen und Protestanten in Bergisch Gladbach: Holländische Handwerker bewirkten, dass hier schon 1610 eine Mülheim zugehörige Kirchengemeinde entstand. Die wuchs ebenfalls stark an und erlangte 1775 ihre Selbstständigkeit. Heute ist die Evangelische Kirchengemeinde Bergisch Gladbach mit ihren vier Bezirken die älteste „Tochter“ Mülheims. Fast 140 Jahre lang passierte dann erstmal nichts, bevor 1913 „die nächste Tochter geboren wurde“. In Dellbrück und Holweide ließen sich viele Industriebtriebe nieder, in der Folge entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Arbeitersiedlungen, auch für protestantische Arbeiter und ihre Familien. „Die Mülheimer Gemeinde baute hier mit finanzieller Unterstützung des Fabrikanten Paul Andreae 1905 eine Kirche“, schreibt die frühere Mülheimer Pfarrerin Wilma Falk-van Rees in dem Buch „400 Jahre Evangelisch am Rhein“. Diese Kirche wurde dann das Zentrum der 1913 gegründeten Evangelischen Kirchengemeinde Dellbrück/Holweide.

Erst kamen Kirchen, dann die Gemeinden
Ebenfalls 1913 wurde in Flittard von der Mülheimer Muttergemeinde ein Gemeindehaus mit einem Betsaal eröffnet. In Dünnwald wurde 1938 eine evangelische Kirche gebaut, und in Höhenhaus mussten sich die evangelischen Menschen bis 1953 gedulden. Erst dann konnten sie von einer Baracke in die gerade fertig gestellte Pauluskirche umziehen. Selbstständige Gemeinden entstanden in diesen Stadtteilen aber erst später: Die Evangelische Kirchengemeinde Flittard/Stammheim entstand 1957, die Gemeinden in Dünnwald und Höhenhaus kamen 1964 dazu, und in Höhenhaus wurde 1968 mit der Bodelschwingh-Gemeinde eine weitere selbstständige Gemeinde ins Leben gerufen. Die letzte Tochtergemeinde, die Evangelische Kirchengemeinde Buchforst-Buchheim, wurde ebenfalls 1968 gegründet.

Erstes Enkelkind kam 1950
Noch vor diesen Tochtergemeinden hatte die Mülheimer Gemeinde bereits „Enkelkinder“: 1950 entstand die Evangelische Kirchengemeinde Bensberg, Tochter der Gemeinde in Bergisch Gladbach, ein Jahr später wurde die Evangelische Kirchengemeinde Brück-Merheim gegründet, die aus der Gemeinde Dellbrück/Holweide hervorging. 1969, ein Jahr nach den letzten Töchtern, teilte sich die erst zwölf Jahre zuvor gegründete Gemeinde Flittard und Stammheim in die Evangelischen Kirchengemeinden Flittard und Stammheim. Eine Teilung, die aber nicht von Dauer war. Aufgrund rückläufiger Mitgliederzahlen kam es schon 2004 wieder zur Vereinigung im Nordosten von Köln: es entstand die Evangelische Brückenschlag-Gemeinde Köln-Flittard/Stammheim. Und auch die Zahl der originären Töchter verringerte sich vor zwei Jahren: Aus denselben Gründen wie in Flittard und Stammheim fusionierten die beiden Höhenhauser Gemeinden zur Evangelischen Kirchengemeinde Köln-Höhenhaus. Somit gibt es heute nur noch sechs Gemeinden, die ihre Ursprünge auf die Mülheimer Gemeinde zurückführen können. Ein richtiges Urenkelkind hat die Mülheimer Gemeinde aber dennoch: 1973 wurde die Evangelische Kirchengemeinde Neubrück gegründet, Tochter der Brücker Protestantinnen und Protestanten.

„Familientreffen“ auf dem Wiener Platz
Sind diese „Familienverhältnisse“ manchmal auch etwas verwirrend, so ist doch eines klar: Die Evangelische Kirchengemeinde Mülheim am Rhein ist die Urmutter all dieser evangelischen Gemeinden. Und Töchter, Enkel und Urenkel versammelten sich fast alle auf dem Wiener Platz, als die „Ur-Mutter“ ihren 400. Geburtstag mit einem großen Open-Air-Gottesdienst feierte.

Text: Jörg Fleischer
Foto(s): Fleischer