You are currently viewing Eine Kiste im Keller – zum Beispiel mit 767 Feldpostbriefen aus der Nazizeit. Eine Ausstellung in Lechenich als Raum der Erinnerung

Eine Kiste im Keller – zum Beispiel mit 767 Feldpostbriefen aus der Nazizeit. Eine Ausstellung in Lechenich als Raum der Erinnerung

Die Kirche ist ein Raum der Erinnerung – nicht, um in der Vergangenheit zu verharren, sondern, um die Zukunft zu gestalten, wie Pfarrer Helmut Schneider-Leßmann von der evangelischen Kirchengemeinde in Lechenich sagt. Keine Ausstellung mache das derzeit deutlicher, als die beiden Zusammenstellungen „Eine Kiste im Keller“ und „Gedächtnisverlust“ des Künstlers Werner Steinbrecher in der evangelischen Kirche der Versöhnung in Lechenich, die jetzt eröffnet wurden. Der Künstler aus Allenbostel (bei Uelzen) hat tief in den Brunnen der Vergangenheit seiner Eltern gegriffen. So tief wie er in der Geschichte gegraben hat, sich durch Zeitungsartikel über Prozesse gegen Kriegsverbrecher und 767 Feldpostbriefe, die sein Vater während des Zweiten Weltkrieges an seine Mutter geschrieben hatte, gewühlt hat – so tiefgreifend ist auch seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seiner Eltern. Wie ein Historiker habe er sich gefühlt, sagt er, als ihm sein Vater nach dem Tod der Mutter Anfang der 80er Jahre eine Kiste übergab, in der seine Eltern alles aus der Nazizeit aufbewahrt hatten. „Endlich hatte ich die Quellen für die Auseinandersetzung mit meinen Eltern.“


„Das offizielle Gedächtnis“  herstellen
In den Briefen des Vaters Hubert Steinbrecher ist keine Spur von kriegsverherrlichenden Parolen, es fällt kein negatives Wort über Juden. Die Briefe handeln vom Soldatenalltag und offenbaren  zu Kriegs-Beginn eine ganz andere Begeisterung – die für fremde Länder: „Es ist ganz herrlich, so durch die wunderbare Welt zu fahren.“ Mit Fortschreiten des Krieges ändert sich der Ton: „Bitter sind die Gedanken“, „Hoffen wir das Beste.“ Zunächst sei sein Vater von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt gewesen, sagt Steinbrecher. Später habe er sich immer mehr davon gelöst und in die Opferrolle hinein bewegt.  Wie viele andere seiner Generation hat auch Steinbrecher den Vater angeklagt, ihn die Frage nach der Mitverantwortung gestellt. Das Gespräch habe immer in die Gegenfrage seines Vaters „Was hätten wir denn tun sollen?“ gemündet. Damals, als der Maler die Kiste von seinem Vater bekam, gab es noch keinen Raum für Erinnerungen in der Familie. „Das offizielle Gedächtnis war nicht hergestellt. Wie sollte es da einen Blick auf das Familiengedächtnis geben?“, sagt Steinbrecher. In Familien sei geschönt, umgedeutet und mystifiziert worden. Erst heute hätten die privaten Erzählungen ihren Platz eingenommen.

Die Ausstellung ist nicht nur eine persönliche Konfliktbewältigung. Bei der künstlerischen Aufarbeitung hat Steinbrecher die Briefe anhand von Dokumenten und Fotos historisch und biografisch eingeordnet. Steinbrecher: „Es geht darum, wie die Eltern sich sahen und wie ich aus Distanz auf sie schaue, und wie das mit der historischen Faktenlage korrespondiert.“

„Gedächtnisverlust“?
Eng verbunden mit der Auseinandersetzung der nachfolgenden Generation ist die Frage, ob Menschen sich an etwas erinnern können, das sie nicht selbst erlebt haben. Auf diesen Gedanken stützt sich die zweite Ausstellung Steinbrechers, die in der Kirche der Versöhnung stattfindet: „Gedächtnisverlust“, heißt sie.
Im Mittelpunkt dieser Ausstellung steht ebenso ein Nachlass der Eltern, ein Schuhkarton voller Fotos, die sein Vater zwischen 1928 und 1955 aufegnommen hat. In der Ausstellung diser Fotos untersucht Steinbrecher die Deutungsmöglichkeit der nur scheinbar objektiven Fotografien. Seine Erkenntnis: Die Rekonstruktion der Geschichte misslang, sie führte vielmehr zu neuen Erzählungen. „Die Bilder verselbstständigen sich“, hat Steinbrecher erkannt und zielt mit seiner Ausstellung auf Wahrnehmung, Anschauung und Bewusstsein ab.

„Ich bin versöhnt mit meinem Vater“
Steinbrecher hat genau hingeschaut, und heute ist für ihn nicht mehr die zentrale Frage, ob sein Vater mitschuldig war an dem Verbrechen. Ob die Schuldfrage beantwortet werde oder nicht, ändere an der Historie nichts, sagt er. „Aber man muss erst mal genau hinsehen und das Wahrgenommene zulassen.“ Und so kann Steinbrecher heute sagen: „Ich bin versöhnt mit meinem Vater.“
Um abschließen zu können, um das Leben vollenden zu können, müsse man sich die Geschichte aneignen, sagt Pfarrer Helmut Schneider-Leßmann. Das heißt: „Frieden schließen mit der Geschichte, so, wie sie gewesen ist.“ Da die Ausstellung im Zeichen der Eintracht stehe, passe sie gut in das Lechenicher Gotteshaus mit dem Namen „Kirche der Versöhnung“. Zweifel, dass die Ausstellung in der Kirche fehlplatziert sei, hat Schneider-Leßmann nie gehabt. „Zeitzeugen der Kriegsgeneration sterben aus“, mahnt der Pfarrer. Bei denjenigen, die es noch gäbe, würden die Geschichten vielfach erst heute thematisiert. In den 60er, 70er Jahren, als die nachfolgende Generation kritische Fragen stellte, sei es schwer gewesen, unter dem Druck der Fragen Erinnerungen zu beschreiben. „Es ist wichtig, Gedenken zu haben. Gott lässt dabei sein Volk nicht los, sondern führt es in die Zukunft.“ Und so sei die Kirche auch ein Ort der Erneuerung.

Ausstellung und Rahmenprogramm
Die Ausstellung ist noch bis 31. März immer freitags jeweils 16 bis 18.30 Uhr, nach den Gottesdiensten und nach Vereinbarung (Telefon 02235/6218) in der Kirche der Versöhnung, An der Vogelrute 8, in Erftstadt-Lechenich, zu sehen. Ein umfangreiches Rahmenprogramm ergänzt die Ausstellung. Am Dienstag, 21. März, 19.30 Uhr, liest Dr. Ferdinand Schlingensiepen Texte von Dietrich Bonhoeffer. Der Kabarettist Hagen Rether gastiert mit seinem Proramm „Liebe“ am Mittwoch, 22. März, 20 Uhr. Am Freitag, 24. März, 16 Uhr, wird die Ausstellung um persönliche Gegenstände aus der NS-Zeit von Gemeindegliedern erweitert. Wer also auch eine Kiste im Keller oder auf dem Dachboden mit Dokumenten oder Ähnliches aus der NS-Zeit hat, wird gebeten, sie der evangelischen Kirchengemeinde zur Verfügung zu stellen. Informationen erteilen Pfarrer Schneider Leßmann (Telefon 02235/71195) und Ursula Schemann (Telefon 02235/6218).

Text: Bianca Wilkens
Foto(s): Bianca Wilkens