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Ein Jahr danach: Was hat der 11. September 2001 ausgelöst?

Am Anfang standen Schock, Wut und Trauer. Pfarrer Gerold Vorländer schrieb einen Tag danach: „Benommen, wie betäubt stolpert man durch diesen Tag nach dem ‚blutigen Dienstag‘. Die Erschütterung durch die wahnwitzigen Terroranschläge sitzt tief. Und man schwankt zwischen bedrückter Sprachlosigkeit und dem Drang zu heftigen Diskussionen, zwischen fassungslosem Kopfschütteln und Angst vor den Konsequenzen, die dieser Tag für die Welt haben wird. “ Sein kompletter Text steht immer noch bei uns im Netz.

Auch auf diesen Internetseiten geschah viel, direkt nach dem Attentat: Die Rubrik „Aktuelles“ unsers Forums wurde zu einem zentralen Instrument, die Angst und Verunsicherung von uns allen ist dort heute noch herauszulesen. Viele PfarrerInnen boten spontan Gottesdienste an, öffneten die Kirchen. Wichtig war es, da zu sein, Trost zu spenden und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Dieses Angebot war notwendig, wurde vielfach dankbar angenommen.
Für das Land NRW stellte die Online-Redaktion ein virtuelles Kondolenzbuch ins Netz, rund 8.000 Menschen trugen sich bis zum 8. Oktober 2001 dort ein, dann überreichte es Ministerpräsident Wolfgang Clement dem Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika, Daniel R. Coats, wie eine gleichlautende Pressemitteilung berichtete. „Dieses Buch zeigt deutlich, wie sehr sich die Menschen bei uns mit den Menschen in den USA einig sind in ihrem Entsetzen, ihrer Trauer und auch in ihrer Entschlossenheit, gemeinsam den terroristischen Angriffen auf Freiheit, Fortschritt und Zivilisation zu widerstehen“, sagte Clement damals.

Doch da hatte bereits das begonnen, was die USA als „gerechten Krieg“ bezeichneten, begannen die „Vergeltungsschläge“ gegen Afghanistan – und die Reaktionen auf die Konsequenzen aus dem blutigen Attentat vom 11. September wurden differenzierter.
Im November verabschiedete der Kirchenkreis Köln-Mitte auf seiner Kreissynode eine Erklärung: „Wir verweigern uns der geographischen und auch der religiösen Aufteilung der Welt in gut und böse. Dabei werden wir davon getragen, dass Gott sich mit uns und aller Welt versöhnt hat (Röm 5,8; Joh 3,16). Deshalb sind wir im gleichen Maße wie mit den Opfern in der USA solidarisch mit den Opfern der Bombardierungen, den Flüchtlingen und Hungernden in Afghanistan. In der Nachfolge Jesu Christi treten wir dafür ein, alles zu unterlassen, was das Leiden dieses Volkes fortsetzt oder vergrößert. Der Wille zur Ergreifung und Bestrafung der Täter rechtfertigt nicht die Zerstörung eines Landes“, heißt es da.

Am 12. März 2002 veröffentlichen 58 führende amerikanische Intellektuelle einen gemeinsamen Appell, den US-„Krieg gegen den Terror“, den „gerechten Krieg“ zu unterstützen. Eine deutsche Übersetzung dieses Briefes ist hier zu finden.
Die deutsche Antwort darauf heißt „Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus“ und ist unter anderem von Friedrich Schorlemmer und Dorothee Sölle mitunterzeichnet. In diesem Text heißt es beispielsweise: „Für den entsetzlichen Massenmord am 11. September gibt es keine moralische Rechtfertigung. Darin stimmen wir Ihnen uneingeschränkt zu. Wir teilen auch die von Ihnen zugrunde gelegten moralischen Maßstäbe, dass Menschenwürde, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe und Religion, unantastbar ist, dass das Streben nach Demokratie ein wichtiges Fundament für den Schutz der Menschenwürde, der individuellen Freiheiten, der Religionsfreiheit und der in der UN-Charta festgelegten Menschenrechte ist. Doch genau diese moralischen Werte, die für uns universale Gültigkeit haben, veranlassen uns, auch den Krieg, den Ihre Regierung und ihre Verbündeten, uns eingeschlossen, in der Anti-Terror-Allianz in Afghanistan führen und dem bisher über 4000 unbeteiligte Menschen, darunter viele Kinder und Frauen, zum Opfer gefallen sind, mit derselben Schärfe abzulehnen, wie wir den Massenmord an den unbeteiligten Menschen durch den Terroranschlag verurteilen.“

Langsam veränderte sich die Wahrnehmung von Schuld und Vergeltung, von Gewalt und deren Ursachen: Einer Meldung des Kölner Stadt-Anzeigers vom 4. September 2002 zufolge geben heute „die meisten Europäer den USA eine Mitschuld an den Anschlägen vom 11. September. Die US-Außenpolitik habe nach Meinung von 55 Prozent der befragten Europäer mit zu den Anschlägen auf das World Trade Center beigetragen.“

Als Fazit dieses kleinen Rückblicks läßt sich sagen: Wir haben ein Jahr gebraucht, um erst einmal die wichtigsten Fragen zu formulieren. Zum Beispiel: Gibt es das denn, einen „gerechten Krieg“? Sind Kriege überhaupt eine Lösung? Oder gar Präventivschläge, wie derzeit gegen den Irak im Gespräch? Welche anderen Mittel gibt es? Welche (außen)politische Maßnahmen können helfen, die Ursachen von Gewalt und Terror zu bekämpfen? Wie können/wollen demokratische Regierungen mit der Bedrohung durch Terror umgehen?
Antworten haben wir darauf noch nicht.

Gerold Vorländer hat mit seiner Einschätzung vom 12. September 2001 Recht behalten: Die Konsequenzen für unsere Welt aus dem Attentat vom 11. September 2001 sind beängstigend – und bislang noch überhaupt nicht absehbar. Denn: Mindestens eine Antwort gab es doch. Sie kam von der EKD-Synode im November 2001. Sie ist überaus realistisch – und läßt kaum darauf hoffen, dass wir die aufgeworfenen Fragen auch nur in halbwegs absehbarer Zeit in den Griff bekommen: „Um den Frieden zu erhalten und wieder herzustellen, müssen verschiedene Wege gegangen und unterschiedliche Mittel angewendet werden. Dabei darf nicht zuerst oder vorrangig an militärische Kampfeinsätze gedacht werden. Vorrangig sind vielmehr politische Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker, gerechte wirtschaftliche Verhältnisse, internationale Zusammenarbeit, zivile Konfliktregelungen – auch mit Hilfe von Friedensfachdiensten -, und um Begrenzung von Rüstung und Waffenhandel. Wir wissen, dass solche Bemühungen nur auf lange Sicht erfolgreich sind und sich zuvor in Situationen konkreter Bedrohung durch Gewalt als unzureichend erweisen können.“

Text: Al-Mana
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