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Ein halbes Jahrhundert evangelische Melanchthon-Akademie

In diesem Jahr besteht die Melanchthon-Akademie des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region 50 Jahre. „Weiter Denken“ – so lautet das neue Schlagwort zum „runden Geburtstag“ der Akademie. "Wir wollen das 'Weiter Denken' üben – und uns jetzt Zeit nehmen, Bildung als einen Genuss auch gemeinsam zu feiern" erzählt Akademieleiter Dr. Martin Bock. Die Redaktion hat ihm weitere Fragen gestellt.

Wie kam es zur Gründung der Melanchthon-Akademie in Köln, der ältesten evangelischen Stadtakademie Deutschlands?
Dr. Martin Bock: In den 1960er Jahren hat die Evangelische Kirche gemerkt, dass sie im Grunde die aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie die brennenden theologischen Themen, die Anschluss- und Kontroverspunkte zur Kultur, weder nur in Kirchengemeinden, noch nur auf Kirchenkreisebene, noch nur im internen Expertenkreis beraten kann, sondern sie sich in einem ständigen Dialog befinden muss, in dem sie selbst Mit-Lernende ist. Daher gründete man sogenannte dritte Orte, Akademien auf der „grünen Wiese“. Dort, abseits urbaner Zentren und ihres alltäglichen Umfeldes, sollten Menschen sich weiterbilden, miteinander diskutieren können. Gleichzeitig hat es damals auch den Aufbruch in Richtung Stadtakademie gegeben. 1961/62 war eigentlich die erste Etablierung einer solchen Bildungseinrichtung in evangelischer Trägerschaft in der Stadt.

Hieß die Einrichtung von Beginn an Melanchthon-Akademie?
Dr. Martin Bock: Nein, sie ist hervorgegangen aus dem am 1. Oktober 1962 gegründeten Melanchthonwerk, einem „Evangelisches Bildungs- und Sozialwerk“, das den Kontakt zur Arbeitswelt suchte. Walter Bienert, der erste Leiter, hatte genau diese Aufgabe übernommen. Er hatte bereits in den 1950er Jahren die Vernetzung der Evangelischen Kirche mit der Arbeitswelt eingeleitet. Nun verfügte man über einen Ort, an den man Menschen einladen und Bildung vermitteln konnte. Ziel war es, evangelische Handwerker an ihrem Feierabend in Ruhe weiterzubilden und Gemeinschaft anzubieten. Das kann man ganz schön studieren an einigen Glas-Fenstermotiven des Hauses, in denen Handwerker im Gespräch zusammensitzen. Aus dieser sozialen Orientierung entwickelte sich dann die Akademie.

1963 wurde das Melanchthonwerk in Melanchthon-Akademie umbenannt?!
Dr. Martin Bock: Ja, und sie etablierte sich mit einem vielfältigen Themen-Portfolio: Politik, Theologie, Spiritualität, Literatur und anderes. Das war der Anfang der Akademie im städtischen Leben in der Verantwortung der evangelischen Christen in der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Übrigens hat es eine solche evangelische Akademie in Köln und an anderen Orten schon einmal für ein Jahr gegeben. Das war 1933/34, in der Zeit des Nationalsozialismus. Die deutschen Christen versuchten durch eine Anpassung an die politische Gegenwart ihre Ziele zu etablieren und wirkmächtig zu verbreiten. Aber das hat nicht funktioniert. Trotzdem muss das im Hinblick auf die ersten Jahre nach der Gründung der Melanchthon-Akademie immer mit gesehen werden.

Weshalb?
Dr. Martin Bock: Obwohl die Stadtakademie früh aktuelle Themen aufgegriffen hat, konnte man sie zunächst als Bollwerk der „rechten Lehre“ betrachten. Zwar diskutierte man beispielsweise darüber, was die evangelische Kirche vom II. Vatikanischen Konzil zu erwarten habe. Es gab ökumenische Tage und das Verhältnis von Judentum und Christentum wurde begonnen, zu thematisieren. Aber dass die evangelische Kirche schuldig geworden war am jüdischen Volk, diese Dinge sind noch überhaupt nicht gesehen worden. Ebenso wenig, dass das Christentum weder als Religion noch als Institution einen Absolutheitsanspruch zu beanspruchen hat, sondern mitverantwortlich in einer zunehmend pluralen Gesellschaft zu wirken hat. Es gab nur wenige, die den Anspruch eines kritischen politischen Christentums hatten. Das hat zunächst keine Rolle gespielt. Beispielsweise ist damals an der Akademie das „Politische Nachtgebet“ in der Antoniterkirche vollkommen vorbeigegangen. In den 1960er Jahren blieb sie der Tradition verhaftet, war mittelständig orientiert. Eine Ausnahme war übrigens der „Kreis griechischer Gastarbeiter“, die sich seit 1966 hier im Haus trafen. Welche Berührungen es aber zwischen ihnen und den anderen Besuchern gab, darüber gibt es keine Notizen.

Wann brach diese Orientierung auf?
Dr. Martin Bock: Anfang der 1970er Jahre. Damals setzte, ebenso wie im Katholizismus, ein Reformprozess ein. Eine plurale Sicht des Christentums brach sich Bahn. Die Kirche beteiligte sich selbst an gesellschaftlichen Diskussionen, nahm sich verstärkt gesellschaftlicher Themen an. Das bewirkte, dass auch hier immer mehr Fachleute als Dozentinnen und Dozenten gewonnen wurden.

War das vorher nicht so?
Dr. Martin Bock: Es ist interessant, dass in den ersten Jahren der Akademie die Kölner Pfarrerschaft sich aktiv am Programm beteiligt hat. Das war ein gemeinsamer Aufbruch. Heute ist es aus unterschiedlichen Gründen seltener geworden, dass sich Pfarrerinnen und Pfarrer mit am Programm beteiligen. Aber dass sich mittlerweile in der Dozentenschaft die Pluralität der Gesellschaft abbildet, hat auch mit der breiten Auffächerung unserer Angebote zu tun.

Wie ist es heute um den Dozentenkreis bestellt?
Dr. Martin Bock: Es gibt einen Stamm von Dozentinnen und Dozenten, die kontinuierlich Themen anbieten etwa in den Bereichen Psychologie, Rhetorik, Kommunikation, Kultur, Gesundheit und Bewegung. In der Theologie und Politik überlegen wir für jedes Semester neu, was dran ist. Dazu laden wir Referenten aus dem gesamten Bundesgebiet ein. Wir haben noch keine Absage bekommen. Außer von Fulbert Steffensky. Bei ihm kamen wir mit unserer Terminanfrage immer zu spät. Auch Leute der umliegenden Universitäten kommen gerne hierhin. Es ist für sie eine andere Form des Vortrags und Gesprächs. Statt Studierenden begegnen sie hier Menschen mit in der Regel mehr Lebensreife. Das sind offenbar andere Gespräche. Gut finde ich, dass wir immer Querdenker hierher einladen können. Beispielsweise – zum Thema Verteilungsgerechtigkeit – den Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge, der radikal fragt. Ebenso Leute, die zu muslimischen Themen sprechen, die neue Themen, beispielsweise den Feminismus in der muslimischen Theologie, vertreten. Wir bemühen uns, Menschen einzuladen, die von Medien bediente Vorurteile umgehen können.

Was zeichnet die Dozenten der Akademie aus?
Dr. Martin Bock: Es sind nicht Menschen, die auf eine Weltanschauung geeicht sind, sondern kompetent in der Erwachsenenpädagogik wirken. Vielleicht sind wir da beim nachhaltigen Sinn unseres Mottos „Weiter Denken“. Wir erlauben den Dozenten, weiter zu denken. Wir möchten, dass sie weiter denken. Da geht es auch um scheinbare Tabu-Bereiche. Beispielsweise in der Frauenbildung in den 1970er Jahren. Später ging es auch um die Auseinandersetzung mit neuen Formen der Religiosität. Das sind Andockpunkte gewesen, für die ein großer Raum sein soll. Auch im Hinblick auf Veranstaltungsformen.

Was heißt das?
Dr. Martin Bock: Dass wir nicht nur Vorträge anbieten, sondern uns eine Vielfalt an pädagogischen Zugängen wichtig war und ist. Die Akademie versteht sich als einladender Ort, wo Menschen das Gespräch lernen, etwas ausprobieren können; wo man sich auseinandersetzt, eine Kompetenzorientierung erfährt. Das hat dazu geführt, dass wir die Entwicklung der Stadt ein wenig mit begleitet haben. Denken wir nur an die Gerechtigkeitsfragen. Ende der 1970er Jahren haben wir die Veranstaltung „Von Frauen für Frauen“ eingeführt, in der es um Spiritualität und Sexualität, um das Selbstverständnis, Berufsarbeit und Eigenständigkeit von Frauen gegangen ist. Bis heute besteht ein Beratungsangebot zu Trennung und Scheidung.

Die Akademie hat früh reagiert auf die wachsende Bedeutung des Bereichs „Kommunikation und Medien“?
Dr. Martin Bock: Stimmt, 1996 hat unser entsprechender Fachbereich neue Räumlichkeiten im KOMED im MediaPark bezogen. Akademie und Evangelischer Kirchenverband haben gesagt: Wir müssen dorthin, wo die Medienwelt entsteht. Dort fördern wir ausdrücklich auch die Beschäftigung mit Medienethik.

Wer besucht die Akademie-Veranstaltungen?
Dr. Martin Bock: Das kann man nicht generell sagen. Wir haben ein vielfältiges Angebot. Das heißt, die Menschen, die theologische Angebote besuchen, sind in der Regel andere als die, die unsere Tanz-Angebote wahrnehmen. Es hängt eben ab vom jeweiligen Interesse, Alter, politischer Ausrichtung. Die Akademie wird eher langfristig wahrgenommen. Wir haben treue Besuchende, die bleiben am Ball. Das hat etwas mit persönlichen Beziehungen zu tun, die wir hier aufbauen und pflegen. Beispielsweise besteht seit über 25 Jahren die „Akademie am Vormittag“, die schon Marten Marquardt von seinem Vorgänger übernommen hat. Jeden Dienstag treffen sich zwischen 10 bis 20 Menschen, hören und sprechen über unterschiedliche theologische Themen. Sie werden mit der Akademie älter, und neue kommen hinzu. Das gilt ebenso für andere Themenbereiche und Dozenten. Mich freut, dass sich der Kreis der Dozenten/innen in den letzten Jahren verjüngt hat. Ihr Alter reicht von Mitte 20 bis Anfang 70. Wir können bestätigen, dass die Erwachsenenbildung eher ein Feld ist, zu dem man mehr kommt, wenn man aus dem Beruf ausgeschieden ist, familiäre Pflichten einen nicht zu sehr beanspruchen.

Wie wird die Akademie innerhalb der eigenen Reihen wahrgenommen? Dr. Martin Bock: Die Wahrnehmung der Akademie im Evangelischen Kirchenverband, in den vier Kirchenkreisen und den Gemeinden hat sich gut entwickelt. Es hat damit zu tun, dass sie kontinuierlich und immer nachdenklich und kritisch das evangelische Profil in der Stadt geschärft hat und weiter schärft. Gegenwärtig bekommen die Fragen nach dem Elementaren verstärkt Bedeutung. Die Frage, was uns leiten soll, was Evangelisch-sein heißt, ist stärker in den Vordergrund getreten. Jede Gemeinde muss sich fragen, wo sie steht, wohin sie will. Und wenn die Akademie dabei mithelfen kann, tun wir das gerne. Beispielsweise pflegen wir fortwährend Angebote für Ehrenamtliche in Kirchengemeinden. Vor kurzem haben wir einen Schnupperabend für neue Presbyter, das sind Studierende über Manager bis hin zur Rentnerin, eingeführt. Insgesamt stelle ich eine engere Kooperation fest. Der Kirchenverband ist in dieser Umbruchphase stärker daran interessiert, das Potenzial, das uns hier gegeben ist, zu nutzen.

Wie beurteilen Sie selbst das Ansehen der Akademie?
Dr. Martin Bock: Durch ihre Themenvielfalt, ihre Kooperationen hat sich die Akademie einen sehr guten Namen gemacht. Beispielsweise hilft der ausdrücklich ökumenische Kontakt, dass sich Dinge entfalten können, die in vieler Hinsicht relevant sind, siehe die Errichtung einer Stele im Gedenken an Freya von Moltke. Die Akademie hat etwas zu sagen, legt sich nicht fest, beleuchtet Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven. Sie kann schnell reagieren. Wir werden um Kooperation befragt, sind nah am Puls. Die Arbeit meiner Vorgänger und Kollegen stellt genau diesen Humus und Nährboden dar. Es sind diese Rahmenbedingungen, die die Akademie zu dem gemacht haben, was sie ist. Der Mut, langfristige Kooperationen einzugehen, hat sich bezahlt gemacht. Ich nenne etwa die dauerhafte Verbindung mit der C.G. Jung-Gesellschaft Köln und die Aufnahme des Bildungsangebotes des Frauenbildungswerks „Frauensicht“. Das bietet den Vorteil, dass man nicht immer neu aufbauen muss. Und wir verfügen zusammen über eine Klientel, die sowohl an theologisch-spirituellen als auch psychologischen Themen interessiert ist. Das passt gut zusammen.

Wie sehen die nächsten 50 Jahre der Akademie aus?
Dr. Martin Bock: Sicherlich wird es noch wichtiger werden, die Bildungsangebote für Menschen jenseits ihres Berufslebens auszurichten. Das Thema Alter wird uns mit all seinen Facetten und Fragen stark beschäftigen. Ab Herbst wird es in der Nachfolge des ehemaligen Sozialethischen Ausschusses unter dem Dach der Akademie ein „Forum Sozialethik“ geben. Wichtig ist auch das Thema der theologischen Elementarisierung. Das macht uns Spaß, wie wir beispielsweise mit unserem 1999 eingeführten zweijährigen Studiengang STARK (Studium an der Akademie: Theologie) zeigen. Es geht um Sprachfähigkeit und Selbstständigkeit. Um die Freiheit, das mit allen Risiken und Nebenwirkungen zu thematisieren.

An Bedeutung zunehmen wird auch das Thema Inklusion?
Dr. Martin Bock: Sicher, es geht um die gerechte Teilhabe aller Menschen an Bildungsangeboten. Wir sind in den letzten Jahren darin auch der Denkrichtung der Landeskirche gefolgt. Wir fragen uns verstärkt, wie wir als einladendes Haus Inklusion leben können. Bildung ist ein Menschenrecht. Bildungsarbeit ist heute notwendiger denn je. Bildungsarbeit für Menschen mit und ohne Handicap. Bildung ist zunehmend auch „Grenzüberschreitung“. Unsere ganze Gesellschaft ist sozusagen mit dem Thema der Grenzüberschreitung beschäftigt. Insgesamt habe ich überhaupt keine Sorgen, dass wir nicht genügend Themen und Fragen haben.

Stellen Sie sich bitte vor, Sie verfügten über unbegrenzte Möglichkeiten: Wovon träumen Sie, was wünschen Sie sich für die Akademie?
Dr. Martin Bock: Ich wünsche mir, dass wir dieses wunderbare Kartäuser-Gelände, das durch Mäuerchen heillos zerschnitten ist, vereinheitlichen. Im letzen Jahr wurde das Clara-Elisen-Stift am Kartäuserwall renoviert. Leider bin ich zu spät auf die Idee gekommen, dass man die Menschen in den Einrichtungen auf dem ehemaligen Klosterareal in Beziehung bringen muss: Alte und Junge, Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Ich träume von einer Begegnungsschnittstelle, wo das zusammenläuft. Wir versammeln hier eigentlich Menschen unterschiedlicher Generationen miteinander, da ist noch mehr drin. Wir hätten schon vor zwei Jahren darauf kommen sollen, dass wir – Mauer brechend – eine Schnittmenge bilden müssen. Ebenso wünsche ich mir für unser Haus als Pendant zum Bildungsangebot einen Raum, wo sich Menschen „zweckfrei“ aufhalten können. An einem solchen zweckfreien Ort sollten Menschen ihr Bedürfnis nach Meditation und Konzentration stillen können. Ich kann mir einen solchen Ort sehr gut in unserem Garten vorstellen, einen Pol zugleich der Ruhe und der Unruhe.

Akademieleiter Dr. Martin Bock.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich