You are currently viewing Dr. Navid Kermani begeisterte mit seiner Rede: „Wir sollten uns nicht heraushalten!“

Dr. Navid Kermani begeisterte mit seiner Rede: „Wir sollten uns nicht heraushalten!“

Zunächst war die Situation am Kölner Appellhofplatz noch sehr ungewiss. „Wir müssen den Ablauf noch diskutieren, wir warten jetzt auch auf die Entscheidung der Polizei, im Moment ist noch alles unklar“, so lautete kurz vor 18 Uhr die Ansage von Brigitta von Bülow, die vor Ort für das Bündnis „Köln stellt sich quer“ sprach. Grund für die Unklarheit war die recht kurzfristig erteilte Erlaubnis des Oberverwaltungsgerichts Münster, das den rund 150 „Ködiga“-Anhängern den Marsch durch die Stadt schließlich doch noch genehmigt hatte.

Auch bei der Polizei war die Anspannung deutlich zu spüren, bereits ab 14 Uhr hatten sich etliche Polizisten rund um den Hauptbahnhof positioniert. Vor dem EL-DE-Haus herrschte Trauer um die Opfer des Terroranschlags in Paris, aber auch eindrucksvoller Wille. „Wir lassen uns nicht unterkriegen“, so die Aussage der laut Polizei 6.500 Demonstranten, die sich „quer“ stellten. Mit etlichen fantasievollen Transparenten und Schildern wurde an die Ereignisse in Frankreich erinnert und gleichzeitig ein Bezug zu Köln gesetzt.

Engagement jedes Einzelnen
Deutlich bewegt hörten die Menschen Dr. Navid Kermani, dem Kölner Schriftsteller mit iranischer Herkunft zu, der Brüderlichkeit statt Feindschaft forderte, das Einstehen für Schwächere und die Solidarität mit Verfolgten. Kermani: „Die letzte Woche hat uns an Konflikte und Kriege erinnert, die nicht in vergangenen Zeiten oder auf fernen Kontinenten, sondern direkt vor der europäischen Haustür stattfinden.“ Der Schriftsteller erinnerte in seiner nicht zuletzt auch an die vielen Menschen, die während ihrer Flucht im Mittelmeer sterben. „Wir sollten uns nicht heraushalten!“, appellierte er an die Zuhörenden, die ihm dafür applaudierten.

„Wir sind sehr froh, dass wir uns dazu entschieden hatten, nur diesen einen Hauptredner auf die Bühne zu bringen, denn Dr. Kermani hat die Menschen mit seinen eindringlichen Worten regelrecht gepackt. Mit seinem Text, der sehr viel Analyse enthielt, hat er Zusammenhänge dargestellt, die den Kontext von Terror aufzeigen. Es ist ihm gelungen, jeden Einzelnen bei seinem eigenen Engagement anzusprechen“, berichtete nach dem anstrengenden, aber erfolgreichen Marsch Pfarrerin Dorothee Schaper. Sie ist für den Evangelischen Kirchenverband Köln und Region im Bündnis "Köln stellt sich quer" und war den ganzen Abend vor Ort.

Viele Transparente und Schilder waren während des Trauergangs zu sehen.

Plakat des Domkapitels
Kermanis hatte bereits zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai 2014 im Deutschen Bundestag einen Vortrag gehalten, die als „Rede des Jahres“ ausgezeichnet wurde. In Köln stellte er den Bezug zum EL-DE-Haus her, das einst als Dienststelle der Gestapo diente und damit das nationalistische Schreckensregime verkörperte. Er betonte, wie positiv die Vielfalt in Köln sei und wie sehr die gemeinsame Trauer alle miteinander verbinde. Nach seiner Rede, die immer wieder beklatscht wurde, zogen die Menschen gemeinsam vom Appellhofplatz über die Breite Straße zum Kölner Dom, der diesmal hell erleuchtet war. Das Domkapitel wandte sich mit einem Plakat an der Nordseite der Kathedrale gegen jede Form der Intoleranz. Dort stand zu lesen: „Die Kirche verwirft jede Diskriminierung eines Menschen und jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen, weil dies dem Geist Christi widerspricht“. Spontaner Ausruf einer Gruppe von Demonstranten, als sie das Plakat sahen: „Wir begrüßen das Engagement der Kirchen, aber auch aller Kölner. Es ist unglaublich, wie sehr in Köln die Tradition der Vielfalt gelebt wird, dafür lieben wir unsere Stadt“.

Sie organisierte die Kundgebung mit und engagiert sich im Bündnis "Köln stellt sich quer": Dorothee Schaper

Selbstkritisches und buntes Bild der Stadt
„Wir freuen uns, dass das breite Kölner Bündnis über 70 Institutionen zusammengebracht hat“, bekräftigte auch Dorothee Schaper. Sie betonte, dass man gemeinsam die weiteren Schritte überlegen werde und sich dabei nicht hetzen lassen wolle. Es sollten Akzente gesetzt werden, die die weitere Entwicklung von differenzierter Vielfalt in Köln positiv unterstützen würden. „Viele Menschen waren heute zutiefst emotional berührt, es war gut, dass hier keine Parolen gerufen wurden, sondern wirklich ein selbstkritisches, aber buntes und eben vielfältiges Bild der Stadt gezeichnet wurde“, so das Fazit von Schaper.

Beteiligung der evangelischen Kirche
Rolf Domning, Stadtsuperintendent des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, hat den Aufruf zur Trauerkundgebung ausdrücklich unterstützt. Die Kirchen und die Synagogengemeinde hatten im Vorfeld ein ergänzendes Wort im Sinne der Kölner Friedensverpflichtung am 5. Januar dieses Jahres formuliert. Sie hatten sich an der Organisation der Kögida-Gegendemonstration beteiligt und Ordner gestellt, die für einen friedlichen und reibungslosen Ablauf sorgten. Zudem wurden in den evangelischen Kirchen Pfarrerinnen, Pfarrer und Gemeindeglieder über die Aktionen informiert und zum Mitmachen aufgerufen.

Text: Judith Tausendfreund
Foto(s): Judith Tausendfreund