You are currently viewing Dr. Juliane Arnold sprach über „Ursachen und Grenzen der Gewalt“

Dr. Juliane Arnold sprach über „Ursachen und Grenzen der Gewalt“

Gewalt hat viele Facetten: Krieg, Terror, Totschlag, Fanatismus. Täglich kommen wir in Medienberichten damit in Berührung. Doch meist passieren die großen Gewaltakte woanders, weit weg, in anderen Städten, Ländern, auf anderen Kontinenten. Die schlechten Nachrichten werden nebenbei konsumiert: Sie haben keine Relevanz für unseren Alltag. Anders ist es bei der Gewalt, die im Kleinen stattfindet, in der Familie, zwischen Ehepartnern, in zwischenmenschlichen Beziehungen. Für Dr. Juliane Arnold, Leiterin der evangelischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gehört der Umgang mit den Facetten häuslicher Gewalt zur täglichen Arbeit. Auf Einladung des viermal jährlich stattfindenden Sinnersdorfer Debattier-Salons „Samowar“ gab die Diplom-Psychologin einen Überblick über das Thema „Wie erkenne ich Gewalt?“ und lud die Teilnehmenden anschließend zu einer Diskussion ein. Das aktive Gespräch ist Teil des Konzepts des Debattier-Salons.

In welchen Formen kommt Gewalt vor?
Im Impulsreferat stellte die Psychologin zunächst einmal Fälle von häuslicher Gewalt vor – Fälle, wie sie jeder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft erleben könnte – und zeigte zugleich unter der Devise „Was kann ich im Kleinen bewirken?“ Lösungen auf. Ein Fallbeispiel aus den Medien, das unlängst im niederländischen Arnheim geschehen ist, verdeutlichte, welche Ausmaße Gewalt annehmen kann: Aufgrund einer Streitigkeit zwischen zwei 15-jährigen engen Freundinnen veranlasste eine der beiden einen Auftragsmord ihrer Freundin. Hintergrund war üble Nachrede in den sozialen Netzwerken. Der „Auftragskiller“ war ein 14-Jähriger, der das Mädchen in der eigenen Wohnung mit mehreren Messerstichen tötete und auch den Vater des Mädchens lebensgefährlich verletzte. Das Auftragshonorar: 50 Euro. „Gewalt lässt sich unter verschiedenen Ansätzen betrachten“, sagt Dr. Juliane Arnold. Eine der Definitionen von Gewalt beziehe sich auf die Aussage ‚Handlungen und Vorgänge, die auf Menschen schädigend einwirken‘, eine weitere, die soziologische Sichtweise, bezeichne Gewalt als Quelle der Macht. „Aus der Bibel kennen wir Abhandlungen dazu aus Vers 21 im zweiten Buch Mose: Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so die Referentin. In Deutschland betrage die Zahl der bekannten Fälle regelmäßig körperlich misshandelter Kinder 1,3 Millionen, 420.000 davon würden „häufig“ misshandelt. 30 Prozent derer, die in der Kindheit Misshandlung erlebten, misshandelten später andere. Die Dunkelziffer sei jedoch weit höher. Dabei brauchten Kinder „Liebe, Schutz, Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Trost und vor allem Zeit“. Eine positive Eltern-Kind-Beziehung präge das Selbstwertgefühl.

Frustration führt zu Aggression
Die Gründe, aus denen es zu Gewalt komme, seien vielschichtig. Die Ursachenforschung der letzten 100 Jahre gehe zurück auf die Arbeiten namhafter Psychologen, darunter auch auf das Instanzenmodell von Sigmund Freud. Später kam die Frustrations-Aggressions-Theorie auf. Danach führt jede Frustration zu Aggression und jede Aggression hat ihre Ursache in der Frustration. Heute untersuche man in der Sozialforschung das Gewalt- und Aggressionsverhalten junger Menschen unter dem Aspekt der Wechselwirkung zwischen Auffälligkeit und sozialer Herkunft oder Benachteiligung. Eines der Ergebnisse: Bildung spielt eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Gewalt. Erziehung zu Gewaltlosigkeit findet danach häufiger in sozial höheren und bildungsnäheren Schichten statt. Arnold führte zahlreiche psychologische Experimente an, darunter auch heftig umstrittene, die seit Aufkommen der empirischen Forschung mit Menschen durchgeführt wurden. Unter anderem wurden Schauspieler auf der Straße dazu eingesetzt, andere mit einem Messer zu verfolgen. Beobachtet wurde, ob und in welcher Weise dem Opfer geholfen wurde. Ergebnis: Je größer die Gruppe der beteiligten Passanten war, desto weniger halfen den Bedrohten. Arnolds Tipp: „Sprechen Sie das Opfer an, zum Beispiel mit den Worten: Ist das in Ordnung für Sie?“ Dadurch erzeuge man beim Täter Irritation und könne eine Wende in der Gefahrensituation herbeiführen.

Wie lässt sich Gewalt reduzieren?
Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, der Gewalt zu begegnen, erläuterte Arnold. Dazu zähle das Nein-Sagen, einer Kritik standzuhalten und das Formulieren persönlicher Bedürfnisse mit „Ich will“ anstelle von „Ich muss“. Menschen, die in Gewaltsituationen geraten, finden Hilfe auch in der evangelischen Beratungsstelle. Dort stehen geschulte Mitarbeiter zur Verfügung, die zuhören, Gespräche anbieten oder, falls notwendig, den Besuch von Selbstbehauptungskursen und Antigewalttrainings vermitteln. Als grundsätzliche Übung empfiehlt Arnold, das Erlernen der „zehn Regeln für die partnerschaftliche Konfliktklärung“ nach Jörg Fengler. Schwierig für manche Menschen dürfte besonders Regel Nummer fünf sein: „Sprechen Sie kurz. Stellen Sie sich dann neugierig auf das ein, was der Gesprächspartner sagt.“ Oder die ‚Regeln für besseres Streiten“. Neben Geduld und Zeit für ein Gespräch und der Herstellung einer ablenkungsfreien Gesprächssituation fällt dort besonders der Rat zur Vermeidung von Killerphrasen wie „Du bist schuld“ oder „falsch!“ ins Auge. Oder, wie es Martin Koschorke in seinen ‚beliebten Irrtümern zu zweit‘ mit einem Augenzwinkern formuliert: „Stören Sie Ihren Mann beim Fernsehen, es ist der beste Zeitpunkt für ein Konfliktgespräch. Oder auch nachts!“

Kinder testen Grenzen aus
Wenn Kinder laut sind, schimpfen, zanken, treten, also ein ganz normales Verhalten innerhalb ihrer Persönlichkeitsentwicklung zeigen, stehen junge Eltern dem Verhalten häufig ohnmächtig gegenüber. Viele gestehen sich nicht ein, dass sie mit der Erziehung überfordert sind. Wenn sie dann zuschlagen, schämen sie sich oft, wissen aber keinen Rat. Da hilft auch das seit dem Jahr 2000 bestehende BGB-Gesetz nicht, nach dem Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. „Kinder brauchen Grenzen“, sagt die Psychologin. Aber welche Grenze passt zu welchem Alter? „Finden Sie einen Weg der Kompromisse, etwa wenn es um die Wahl eines Kleidungsstückes oder einer Spielaktivität geht, aber setzen Sie dort Grenzen, wo es dem Schutz des Kindes dient, zum Beispiel beim Verlassen der Wohnung ohne angemessene Winterkleidung.“ Arnold fasst ihren Rat in einem Kernsatz zusammen: „Es geht weder um autoritäre, noch um antiautoritäre Erziehung, sondern darum, für das Kind einen Rahmen zu schaffen, die Grenzen abzustecken, innerhalb derer es sich entwickeln kann.“ Möglichkeiten, Gewalt zu vermeiden gebe es viele. Es gelte, sich diese zu vergegenwärtigen. „Gehen Sie auf die Kinder zu, halten Sie Blickkontakt“ – „Gehen Sie raus aus der Situation“ oder „Zählen Sie bis zehn, bevor Sie sprechen“, sind nur einige davon.

Thomas Bietz hatte die Idee zum
Diskutieren bei einer guten Tasse Tee
Der Debattier-Salon „Samowar“ wurde vor gut zehn Jahren von Thomas Bietz ins Leben gerufen. Dahinter steckt die Idee, gemeinsam bei einer gemütlichen Teerunde in einen Diskurs über politische und gesellschaftliche Themen einzusteigen. Nicht zuletzt darüber auch sein Wissen zu erweitern und sich mit einer demokratischen Denkweise auseinanderzusetzen. Bietz, der in einem Kölner Industrieunternehmen arbeitet, hat dort viele Kollegen aus dem russisch-türkischen Raum. „Teepausen, in denen sich alle um den Samowar versammeln, gehören dort zum normalen Tagesablauf“, erklärt er. Die Idee trug er in die Sinnersdorfer Gemeinde, wo sie seitdem als anregende Bereicherung angenommen wird. Seit Beginn des Jahres wurde das Organisationsgremium um die Mitarbeit von Angelika Knapic erweitert. Zum Vorbereitungsteam gehören außerdem Pfarrerin Maike Pungs und Pfarrer Dr. Martin Bock, Leiter der Kölner Melanchthon-Akademie, die zuletzt den Pulheimer Künstler Holger Hagedorn zu Ausstellung und Diskussion über sein Werk „Korpus Delikti A 57“ eingeladen hatten.

Der nächste Samowar-Abend findet statt am Donnerstag, 15. November 2012, 20 Uhr, und steht unter dem Motto „Christsein zwischen Glaube und Zweifel“. Ehrengast und Referent ist dann Altpräses Manfred Kock, ehemaliger Ratsvorsitzender der Evanglischen Kirche in Deutschland.

Text: Anne Siebertz
Foto(s): Anne Siebertz