Predigt des Stadtsuperintendenten Ernst Fey: Heilig Abend 2003, Dreifaltigkeitskirche, Köln-Ossendorf
Weihnachten nach der Geburtsgeschichte Luk. 2, 1-20
Liebe Gemeinde!
Sind sie noch zu retten, die Menschen mit immer mehr um sich greifenden Verkaufsstrategien zu Weihnachten? Sind sie noch zu retten, die Menschen mit ihren Nerven nach vier Wochen Weihnachtsmarkt mit durchdringender Musik, wo der Tag schon nicht still ist und erst recht nicht die Heilige Nacht?
Und sind sie noch zu retten, die Lieder der Weihnacht, wenn in Werbe-Spots und Comedy-Shows die Texte lächerlich gemacht werden und viele das echt „witzig“ finden, die blöden Pointen nachzuäffen und gedankenlos weiter zu geben?
Im August diesen Jahres meldete das Hamburger Abendblatt: „Harrods startet die Weihnachtszeit!“ Keine Zeitungsente: „144 Tage vor dem Fest bietet das Kaufhaus in London – bei drückender Sommerhitze – bereits seine Weihnachtsartikel an.“ Wird uns Weihnachten da ein Fest der Suche, zwischen Geschenke-Stress und kindlicher Freude, zwischen plärrender Musik und doch der tiefen Sehnsucht, mit seinem Leben einmal ein paar Tage zur Ruhe zu kommen… ? Ist Weihnachten noch zu retten und der Mensch?
Ich denke: Ja – und aus guten Gründen! Wir Menschen brauchen bestimmte Rhythmen im Leben, verlässliche Zeiten, Erinnerungen, ja auch gewisse Höhepunkte, auf die hin wir leben und von denen wir die Zuversicht nehmen, unser Leben zu gestalten. Die Freude auf das Geburtsfest Jesu eröffnet mir für mein Leben eine andere Blickrichtung, kann mich gelassener, kann mich auch in dunkler Zeit heller und fröhlicher machen.
Weihnachten ist ein Fest, durch das deutlich wird: Es gibt noch anderes im Leben, ein Mehr an Sinn, ein Mehr an Lebensgefühl, ein Mehr an friedlichem Miteinander.
Eigentlich ein Wunder: Obwohl doch nichts unterbleibt, Weihnachten im Lärm von Konsum und Hektik verstummen zu lassen, werden nach wie vor viele Menschen an diesen Tagen in ihrer Seele bewegt, werden bei uns Stimmungen und Sehnsüchte wach, die wir sonst im Alltag so nicht erleben, ja, zulassen. Die Heilige Nacht der Geburt im Stall ist und bleibt im Tiefsten ein Geheimnis Gottes – das spüren wir genau.
Wir können das Weihnachtslicht dieser Ahnung weitertragen. Wir können die Geschichte weitersagen, in jedem Jahr, immer wieder neu: Gott ist in einem Kind Mensch geworden – klein, arm, verletzbar, unscheinbar. Gottes Sohn kommt nicht zu uns Menschen in Pracht und Überfluss, sondern an einem verlassenen Ort, in einer Krippe, unter außergewöhnlichen Bedingungen zu uns Menschen.
Wie sollten wir dieses Geheimnis der Liebe – der Menschwerdung Gottes – je mit unserem Verstand ergründen können? Bricht doch genau darin, in dem Mysterium, jede menschliche Logik.
Weihnachten erinnert jedes Jahr wieder an eine andere Welt im Namen Gottes, in der Gerechtigkeit kein Fremdwort ist, Frieden möglich wird mit unterschiedlichen Menschen, Lebenschancen nicht einseitig für eine Minderheit gelten.
Dabei lehrt uns die Welt mit ihren Gesetzen so ganz anderes: Bomben explodieren jeden Tag im Irak, unschuldige Menschen sterben mit der offenen Frage: „Warum ich?“ Afghanistan kommt einfach nicht zur Ruhe, weil es dort um Machtbereiche und Einfluss geht, aber nicht um die geschundenen Menschen. In Israel bestimmt weiterhin die Angst vor Terror durch Selbstmordattentäter den Alltag und die trennende Mauer durch das Land betoniert das Gegeneinander in den Köpfen seiner Bewohner. Nicht Liebe und Achtung des Lebensrechts für alle Menschen wird von Generation zu Generation weiter gegeben, eher blindwütiger Hass, der aus der Perspektivlosigkeit vieler Menschen entsteht.
Und wie steht es mit den Lebensperspektiven für die jungen Menschen in unserem eigenen Land? Welche Chancen auf eine Arbeitsstelle zum Beispiel haben sie, wenn immer mehr Arbeitsplätze abgebaut oder ins Ausland verlegt werden. Die Reformkrise im Land treibt seltsame Blüten: Eine erfolgreiche Werbekampagne setzt auf blanken Zynismus mit dem Slogan: „Geiz ist geil“. Die primitive Provokation will Jugendliche bei knapper Kasse zum Kauf locken – Genuss sofort, zu kleinen Preisen – und das um jeden Preis…
Der Geist von Weihnachten steht gegen solchen Zeitgeist und setzt andere Werte. Wir Menschen bekommen am Geburtsfest Jesu erneut gesagt, was wir uns nicht selbst sagen können, was über alle Kaufkraft und Fragen nach Machbarkeit, Erfolg oder Scheitern hinausgeht: „Gott verspricht uns seine Liebe, er will uns in seinem Sohn nahe sein, mit seinem Frieden, mit seiner Gerechtigkeit, mit seinem Trost.“
Das verändert uns, weil wir bei Gott einen Ort finden können, wo wir hingehören, so wie die Hirten an diesem versöhnenden Ort bei Jesus im Stall angekommen sind.
So ist Weihnachten das Fest der Verlässlichkeit Gottes gegen alle anders lautenden Erfahrungen dieser Welt.
Die Krippe, das Kind sind Zeichen, dass es sich lohnt, dieses Leben mit seinem Anfang und Ende aus Gott heraus zu verstehen.
Wir Menschen brauchen Orte, wo wir uns lassen können, Orte, wo wir angenommen sind, so wie wir sind! Orte auch, an denen wir eingeladen sind, wie in dieser Kirche, wo wir versuchen können, die Geschichte der Geburt aufs neue zu verstehen.
In ihr heißt es: Es kann mehr Menschlichkeit geben, auch in einer, wie es oft scheint, sich selbst zerstörenden Welt, dass wir in gemeinsamer Verantwortung näher zusammen rücken, um der Menschen willen.
Vielleicht schafft Weihnachten ja auch Klarheit in manchen Dingen für mich persönlich, lässt mich in Ruhe mein Leben neu betrachten. Es mag sein, dass ich Dankbarkeit empfinde oder Freude darüber, dass ich meine Krankheit überstanden oder wieder neuen Mut geschöpft habe, oder meine Arbeitsstelle gesichert ist.
Und stärkt mich nicht Gottes Verlässlichkeit und Geborgenheit in den Brüchen des Lebens? Wir alle tragen doch Sorgen mit uns herum, zerstobene Wünsche, abgebrochene Wege, zerrissene Beziehungen. Es ist so! Weihnachten nimmt das alles auf. Jesus ist gerade zu denen gekommen, die schwach, krank oder schuldig sind, deren Lebensmut gen Null tendiert. Er hat sagt: „Ich bin bei dir.“ Aus solchem Trost kann es anders werden in uns. Weihnachten heißt auch: „Was dir Angst macht, verliert seine letzte Gültigkeit, was dein Herz und deine Seele belastet, wird ein Stück leichter.“ Gottes Trost will dort geglaubt werden, wo wir ängstlich sind und die Ungewissheit der Zukunft uns lähmt.
Die Weihnachtsbotschaft von „der Ehre Gottes und Frieden auf Erden“ verändert uns Menschen, ohne eigene Leistung.
Wir begegnen einfach einander anders! Wir können das, weil wir uns von Gott getragen wissen, weil wir uns mit unserer Sehnsucht nach einem gelungenem Leben nicht mehr allein fühlen müssen.
Was meinen Sie: Ist also Weihnachten noch zu retten – oder der Mensch? Ich denke doch: Ja! Und Sie??
Gott hat Weihnachten auf den Weg gebracht, um uns Menschen zu beschenken. Lassen Sie sich auch sagen, was Sie sich nicht selbst sagen können. Lassen Sie sich von Gott halten und tragen durch die wechselnden Zeiten ihres Lebens!
Mein Weihnachtswunsch ist, dass sich Menschen wieder mehr dem Worte Gottes zuwenden und ihr Woher und Wohin im Leben auf dieser Welt in seiner ganzen Tiefe erkennen. Das wird sie fröhlicher machen, die Menschen. Und ich denke, das heißt doch auch: weihnachtlicher.
Amen.
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