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Die Weihnachtspredigt 2011 des Stadtsuperintendenten

Die Predigt des Stadtsuperintendenten Rolf Domning an Heiligabend in der Christvesper in der Kartäuserkirche über Jesaja 9,1-6:

Liebe Gemeinde!
In den 70er und den frühen 80er Jahren gab es in Deutschland eine Rockgruppe mit dem markanten Namen „Ton, Steine, Scherben“; vielleicht erinnern Sie sich. Die Musik der „Scherben“, wie man sie nannte, war meist ein bisschen schräg, ihre Texte immer sozialkritisch, politisch, emotional.

1981 veröffentlichen „Ton, Steine, Scherben“ ein merkwürdiges Lied. Mit monotoner, rhythmischer Stimme zählt der Sänger darin Hauptstädte rund um den Globus auf: Brasilia – Teheran – Stockholm – Djakarta – Kopenhagen – Mogadischu – Khartum – Warschau – Kairo – Jerusalem – Kampala und so weiter. Unterlegt ist diese Aufzählung mit einem nervösen, vorwärts treibenden Sound aus Schlagzeug und Synthesizer. Dann, kurz vor Ende des Liedes, ein Bruch. Das Schlagzeug setzt aus, die Musik verlangsamt sich, nur noch einzelne Gitarrenakkorde sind zu hören. Dazu singt ein Kinderchor mit heller Stimme:

Denn jeder Stiefel,
der mit Gedröhn dahergeht
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt
und vom Feuer verzehrt.

Wie gesagt: Ein merkwürdiges Lied, und man kann eine Weile darüber sinnieren, was „Ton, Steine, Scherben“ eigentlichen damit sagen wollten.

Einen ersten Hinweis gibt vielleicht die Auswahl der genannten Städte. Jede Hauptstadt, die in dem Lied vorkommt, war damals in irgendeiner Form in Krieg oder Gewalt verwickelt, teils ganz direkt, als Schauplatz; teils, weil das jeweilige Land in militärische Auseinandersetzungen verstrickt war. Einige der Namen sind uns heute noch geläufig, Jerusalem etwa ist seitdem nicht zur Ruhe gekommen, auch nicht Mogadischu in Somalia oder Khartum im Sudan.

Es geht also um Krieg und Gewalt, und dazu passt ja auch die Aufmachung des Liedes, die vorwärts rollende Musik, der monotone Sprechgesang. Doch dann der Chor mit seinen feinen Kinderstimmen:

Denn jeder Stiefel,
der mit Gedröhn dahergeht und jeder Mantel,
durch Blut geschleift, wird verbrannt
und vom Feuer verzehrt.

Martialische Worte sind das, gerade wenn man sie aus dem Mund von Kindern hört. Da kann es einem schon eiskalt den Rücken herunter laufen. Wenn ich diese Zeilen höre oder lese, entstehen in meinem Kopf sofort entsprechende Bilder. Bilder von den Schützengräben im ersten und
zweiten Weltkrieg, von Bürgerkriegen, blutigen Aufständen oder, ganz aktuell und ganz nah: von marschierenden Neonazi-Horden, von Männern mit kahl geschorenen Schädeln und gereckten Armen, die durch deutsche Innenstädte ziehen.

„Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht und jeder Mantel, durch Blut schleift …“ Ich weiß nicht, ob Sie diesen Text erkannt haben oder ob Sie ihn zuvor überhaupt schon einmal gehört haben. Er stammt nämlich nicht von „Ton, Steine, Scherben“ aus dem Jahr 1981, sondern ist sehr viel älter.

Im Alten Testament finden sich diese Zeilen, im Buch Jesaja, und sie sind Teil des heutigen Predigttextes. Ich lese aus dem Buch Jesaja, Kapitel 9, die Verse 1 bis 6:

1 Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
2 Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
3 Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres
Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
4 Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
5 Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
6 auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, für mich ist das ein verstörender Text. Da sind auf der einen Seite die schönen, vertrauten Verheißungen: das Volk sieht ein Licht, Jubel und Freude kommen auf, ein Kind ist geboren, ein Sohn ist uns gegeben aus dem Volk Davids. Ja, so stellen wir uns Weihnachten vor: heimelig, mit viel Kerzenschein, und irgendwo in der Ecke steht die kleine Holzkrippe mit dem Jesuskind darin. Niedlich!

Aber es gibt da auch noch die andere Seite. Von Finsternis ist da die Rede, die über dem Land liegt, vom Joch, vom Stecken des Treibers. Und eben von den dröhnenden Stiefeln und blutigen Mänteln.

Für unsere romantischen Weihnachtsvorstellungen, so scheint es, hat der Prophet Jesaja nichts übrig. Kein Wunder, weiß er doch sehr genau, welche Bedrückung das Volk Israel schon durchleiden musste. Vers 3 erwähnt Midian, also das Volk der Midianiter, von dem das Richterbuch ausführlich erzählt. Jene Midianiter fielen in der Erntezeit oft ins Gebiet der Israeliten ein, töteten dort und plünderten. Und wie oft wurde Israel in seiner Geschichte Opfer von Fremdherrschaft, Vertreibung und Unterdrückung! Zwar wird Jesaja nicht konkret, er belässt es bei Andeutungen. Aber die entfalten doch ihre Wirkung. Denn es ist ja nicht so, dass wir mit den Bildern von der Finsternis, vom Joch und den dröhnenden Stiefeln nichts anfangen könnten. Sicher: wir sind nicht unterdrückt, versklavt oder ausgebeutet. Wir leben nicht im Krieg. Aber es reicht ein Blick in die Zeitung um zu erkennen: Seit den Tagen Midians hat sich so viel nicht geändert. Und ich nehme einmal an, dass auch das eben zitierte Lied von „Ton, Steine, Scherben“ so zu verstehen ist: Die Namen sind heute andere, die Städte, die Völker, aber Krieg und Gewalt begleiten den Menschen noch immer. Es ist ein Trauerspiel.

Ist es vor diesem Hintergrund nicht absurd, welche Erwartungen dieses Kind erfüllen soll, von dem Jesaja spricht? Jener Sohn, der uns gegeben ist: Die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Er soll die Finsternis vertreiben, den Feind zerschmettern, Gerechtigkeit bringen, und mehr noch: ein Wunder-Rat soll er sein, ein Gott-Held, der Ewig-Vater und Friede-Fürst. Du lieber Himmel, möchte man da sagen – geht es nicht eine Nummer kleiner? Gott-Held. Wunder-Rat. Vor mehr als zweieinhalb Tausend Jahren, als der erste Teil des Jesajabuchs entstand, kamen den Menschen solche Ehrentitel vielleicht noch etwas leichter über die Lippen. Schließlich war Gott selbst im Spiel, der Herr Zebaoth, da darf es ruhig etwas enthusiastischer zugehen. Heute jedoch löst dieses überbordende Lob eines kleinen Kindes eher Stirnrunzeln und Skepsis aus.

Und die ist ja auch berechtigt. Schauen wir einmal genauer hin. Wer ist dieses Kind überhaupt, das Jesaja da ankündigt? Christinnen und Christen, ich habe es eben schon angedeutet, sehen in ihm Jesus, den Christus. Das Neue Testament, allen voran der Evangelist Lukas, nimmt die Verheißungen Jesajas auf. Etwa, wenn Maria von einem Engel erfährt, dass sie einen Sohn gebären wird. „Der wird groß sein“, so spricht der Engel zu Maria, „und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben“. Etwas später (im Lobgesang des Zacharias) heißt es dann, das Kind solle jenen erscheinen, „die sitzen in
Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“. Bis in die Wortwahl hinein ähneln diese Passagen unserem heutigen Predigttext. Für Lukas, den Evangelisten, war also klar: Das Kind, von Jesaja spricht, das ist das Kind in der Krippe, das ist der Heiland, welcher ist Christus der Herr.

Was aber ist mit den übrigen Verheißungen? Was ist mit Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst? Konnte das Kind die Erwartungen erfüllen? Um es einmal etwas plakativer auszudrücken: Herrscht denn nun Friede auf der Welt, regieren Recht und Gerechtigkeit? Sicher nicht. In vielen Ländern der Erde dröhnen nach wie vor die Stiefel des Militärs, und Blut befleckt Uniformen und Kleidung. Würde man, wie seinerzeit der Sänger von „Ton, Steine, Scherben“, anfangen, die aktuellen Krisenherde aufzuzählen, man hätte eine Weile zu tun.

So gesehen ist das bejubelte Kind also grandios gescheitert. Der Gott-Held und Wunder-Rat, er hat die Welt nicht befrieden können. Ja, schlimmer noch: Nicht einmal sich selbst konnte er vor Gewalt und Ungerechtigkeit schützen. Denn wir wissen, wie die Geschichte des Kindes weiterging: es starb als junger Mann am Kreuz, hingerichtet von der Besatzungsmacht der Römer, ausgerechnet. „Auf dass seine Herrschaft groß werde“? Von wegen!

Ist das vielleicht der Grund, warum wir die Weihnachtsgeschichte gerne auf das Kind in der Krippe reduzieren? Warum wir die niedlichen Anteile gerne feiern, den Rest aber lieber ausblenden? Nein, so einfach ist es nicht.

Die Geschichte dieses gescheiterten Kindes – eigentlich hätte sie ja als peinliche Episode in Vergessenheit geraten müssen. Doch, oh Wunder, genau das geschah nicht. Ganz im Gegenteil: was die Bibel uns über das Leben und Sterben Jesu überliefert ist bis heute höchst lebendig. Über 2 Milliarden Menschen rund um den Globus feiern gerade das Weihnachtsfest. Wenn man so will, ist die Herrschaft des Kindes doch noch groß geworden – wenn auch in einem anderen Sinne, als man das zunächst erwartet.

Endlich kommt jemand, der den Feind hinwegfegt, der die Truppen des Gegners schleift und die Unterdrückung auf diese Weise beendet. So könnte man den Jesaja-Text ja lesen, der heute unser Predigttext ist.

Aber genau da liegt vielleicht das Missverständnis. Gottes Stärke zeigt sich eben nicht in militärischen Siegen. Sie äußert sich nicht in sensationellen Umstürzen, nicht in Waffengewalt. Sondern darin, dass Gott uns zutraut, ohne solche Mittel auszukommen.

Nicht einen Feldherrn hat er zu seinem Sohn erkoren, er schickt ein Kind zu uns in die Welt. Einen Säugling, für den nichts weiter vorhanden ist als eine Futterkrippe in einem Stall. Mehr Abrüstung geht eigentlich gar nicht.

Wenn wir uns dieses Kind zum Vorbild nehmen, dann brauchen wir in der Tat keine dröhnenden Stiefel mehr. Es geht gar nicht um die anderen: wir selbst können die Stiefel und die blutigen Mäntel ablegen – unsere eigenen! – und sie dem Feuer übergeben.

An menschlichen Maßstäben gemessen bedeutet das, zu scheitern. Macht aufzugeben, sich verwundbar zu machen. Aber nach den Vorstellungen Gottes ist es der einzig richtige Weg, wie Menschen zusammenleben können und sollen. Nämlich indem wir Macht, Gewalt, Konkurrenz und Neid austauschen gegen eine Liebe, die den Frieden sucht.

„Legt ab die Werke der Finsternis und legt an die Waffen des Lichtes“, ermuntert uns Paulus im Römerbrief. Soll heißen: Ihr habt es nicht mehr nötig, nach den Regeln von Gewalt, Profit und Unterdrückung zu leben. Von diesem Joch seid ihr befreit – durch das Kind, dessen Geburt wir heute feiern. Und wenn wir es lassen, kann es für uns all das werden: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.
Amen.

Text: Rolf Domning
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