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„Die Waisenkinder Afghanistans“

Sie spielen mit Freundinnen, Puppen oder erledigen ihre Hausaufgaben. Andere malen oder sitzen offenbar gedankenverloren vor einem Buch. Die Rede ist von zwölf elternlosen Mädchen und Jungen in Afghanistan. Diese sieben bis 14 Jahre alten Waisen blicken uns von Fotografien entgegen. Es sind Lichtbilder, die dieselben Kinder in verschiedenen alltäglichen wie besonderen Situationen zeigen: in Festkleidung gehüllt, beim Kampfsport, um eine Hausecke schauend, spielerisch schmuckvoll bemalte Handflächen vor das Gesicht haltend… „

Wünsche, Träume und Hoffnungen
„Die Waisenkinder Afghanistans“ ist die Wanderausstellung betitelt, die aktuell in der evangelischen Lutherkirche in der Kölner Südstadt gastiert. Diese wartet nicht allein mit mittelformatigen Fotoabzügen auf. Zusätzlich informieren eher kurze Texte über die Situation der dargestellten Heranwachsenden. Sie enthalten biographische Angaben, aber auch Wünsche, Träume und Hoffnungen, die die Kinder im Gespräch von sich preisgegeben haben. Wir erfahren von Raqya, dass sie die 7. Klasse besucht. Mathe und Physik mag sie am liebsten. Noch lieber widmet sie sich aber ihren Barbies, denen sie Kleider näht. Die zwölfjährige Fatma, die ebenso über ihre Puppen erzählt, möchte Lehrerin werden. Doch wenn sie sagt, „zuhause mache ich erst die Hausarbeit, räume alles auf, bereite für meine kleinen Geschwister das Essen vor“, deutet sich an, wie sehr sich ihr Leben von dem der meisten Gleichaltrigen in unseren Breiten unterscheidet. Neben Bildern und Texten runden als spezielles Moment Stimmproben der Kinder die Zusammenstellung ab. An drei „Tonstelen“ können Interessierte sich von den Jungen und Mädchen vorgetragene Lieder oder Gedichte anhören.

1,6 Millionen Waisen in Afghanistan
Verantwortlich für das Ausstellungsprojekt zeichnen die Ethnologin und freie Journalistin Shikiba Babori sowie die Fotojournalistin Farzana Wahidy. Die Idee stammt von Babori. In Kabul geboren, lebt sie heute in Köln, reist aber im Rahmen ihrer Tätigkeiten regelmäßig auch nach Afghanistan. Seit 2006 leitet sie dort KALIMA, ein Netzwerk unabhängiger Journalistinnen und Journalisten, „das sich über Hintergrundinformationen zu soziokulturellen Themen um einen konstruktiven Dialog zwischen den Kulturen bemüht“. Gezielt fördern möchte KALIMA den Austausch zwischen Afghanistan und Deutschland. Mitauslöser für das Projekt über und mit elternlosen Kindern waren neben Baboris persönlichen Erfahrungen eine vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) veröffentlichte Zahl. „Schätzungsweise leben in Afghanistan 1,6 Millionen Waisen. Das fand und finde ich wahnsinnig erschreckend“, erzählte Babori auf der Vernissage von ihrer Motivation und über die Entstehung des Projekts. „Meine Frage war und ist: Was wird aus den heutigen Kindern? Das ist eine politische Frage.“ Ihre anfängliche Idee, eine Filmdokumentation zu erstellen, ließ sich nicht realisieren. Der Folgeplan, ein Projekt allein mit Fotografien, schien in der weiteren Überlegung nicht „spektakulär“ genug. „Denn Fotoausstellungen zu Afghanistan gibt es viele“, stellte Babori fest. So kam ihr der Einfall, Lichtbilder von Kindern mit den Stimmen der Porträtierten zu verbinden.

Auswege aus der Anonymität
Der Zufall führte Babori mit der Fotojournalistin Farzana Wahidy zusammen. In Wahidy, die in Khandahar geboren ist, in Kabul lebt und arbeitet, fand Babori eine kongeniale Partnerin. „Wir waren lange damit beschäftigt, an die Kinder heranzukommen. Der Staat kümmert sich um sie, sie werden in Häusern versorgt.“ Babori sprach von „direkten, intensiven Begegnungen mit den Kindern. Viele haben von sich erzählt, egal was. Andere waren mit der Situation zum Teil überfordert“. Auch erinnerte sie sich an die Überraschung, dass die Mädchen und Jungen viel mehr Fragen an sie und Wahidy gehabt hätten als umgekehrt. Babori und Wahidy verstehen ihr Projekt als „eine Art Sprachrohr für diejenigen, die sonst nie zu Wort kommen: die Waisenkinder“. Beide wollen mit ihrer Präsentation „einen Zugang“ zu deren Welt anbieten. Ein direkter Einblick in ihren Alltag solle „eine differenziertere Wahrnehmung ermöglichen“. Die Ausstellung solle den Betroffenen ein Forum bieten, „in dem sie sich mitteilen und einen Ausweg aus ihrer Anonymität finden“. Über die Öffentlichkeit solle ein Dialog befördert, „der Dialog zwischen den Völkern gestärkt“ werden. Die Journalistin und Fotografin möchten „Diskussionen anregen, Impulse für eine eigene Auseinandersetzung liefern und nicht zuletzt Perspektiven eröffnen“. „Wer hinschaut, dem wird bewusst, wie wichtig es ist, dass diese Generation bessere Chancen für eine selbst gestaltete Zukunft erhält“, sagt Babori. Nur so könnten sie sich eines Tages verantwortungsvoll beteiligen am Aufbau eines stabilen Staates.

„Botschafter des Menschseins“
„Da kommt ein fernes Land zu Besuch nach Köln, um uns zu begegnen“, begrüßte Hans Mörtter die Vernissage-Gäste. Der Pfarrer an Lutherkirche führte aus, weshalb diese Ausstellung mit Fotografien, Liedern und Geschichten für ihn etwas ganz Besonderes ist. „Für mich sind Kinder Botschafter des Menschseins. Sie sagen: Hier bin ich, wo bist Du, wer bist Du, wo seid ihr?“ Die Kinder auf den Fotos machten deutlich, „wir haben etwas miteinander zu tun“. Jedes Kind, das leide, „ist ein Kind, das mit uns etwas zu tun hat“. Als Eröffnungsrednerin hatten die Veranstalter Andrea Asch gewonnen. Sie sitzt für das Bündnis 90/Die Grünen im nordrhein-westfälischen Landtag, wo diese Ausstellung bereits zu sehen war. In ihrer Fraktion ist sie Sprecherin für Sozial-, Kinder- und Familienpolitik. „Aber mir liegen die Kinder weltweit am Herzen“, betonte die dreifache Mutter. Und dankte der Lutherkirchen-Gemeinde für das Bereitstellen des Raumes. Das Engagement von Shikiba Babori und Farzana Wahidy sei nicht hoch genug einzuschätzen, so die Diplom Psychologin. „Es ist nicht selbstverständlich, dass sich zwei Frauen in einem muslimischen, von Krisen geschüttelten Land auf die Reise machen. Ihre Arbeit ist mit sehr viele Mut verbunden.“ Afghanistan sei gerade für Frauen ein gefährliches Land, eines der gefährlichsten Länder weltweit, auch für Kinder.

„Wir dürfen nicht leichtfertig handeln“
Asch kritisierte den verharmlosenden Begriff „Kollateralschaden“. Die Formulierung „Begleitschaden“ im Rahmen von militärischen Handlungen meine in der Regel den Tod von unbeteiligten Zivilpersonen. „Dahinter stecken immer menschliche Schicksale. Diese Waisenkinder brauchen unseren besonderen Schutz.“ Die Grünen hätten stets sehr gerungen um den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. „Und das Schicksal der Kinder zeigt, dass wir nicht leichtfertig handeln dürfen.“ Immerhin seien dort Fortschritte im Bildungsbereich festzustellen: „Kinder können wieder zur Schule gehen und lernen. Während der Taliban-Herrschaft war ihnen der Zugang zum Bildungssystem versperrt.“ Sicherlich könne man ebenso Erfolge auf der Ebene der Frauenrechte verzeichnen, nannte Asch unter anderem die Redefreiheit und das Wahlrecht für Frauen, die jetzt sogar ins Parlament gewählt würden. Auch dürften sie, unter den Taliban undenkbar, Berufe wie Ärztin, Anwältin und Lehrerin ausüben. Gleichwohl bleibe dieses Land eine der zentralen Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft. Insbesondere müsse viel mehr auf die Rechte von Frauen und Kinder hingewirkt werden. So bedauerte Asch, dass die Bundesregierung im Zusammenhang mit der finanziellen Afghanistan-Unterstützung in Höhe von 430 Millionen Euro keine konkrete Forderungen und Projektförderungen verbinde. „Das darf uns nicht genügen.“ Wir bräuchten verbindliche Vereinbarungen und Zielvorgaben.

Die Öffnungszeiten:
Die Ausstellung in der Lutherkirche, Martin-Luther-Platz 2-4, 50677 Köln, ist bis zum 14. Oktober 2011 zu sehen: Dienstag bis Freitag von 16 bis 19 Uhr, Samstag und Sonntag von 11 bis 14 Uhr. Führungen können unter der Telefonnummer 0163-8807648 vereinbart werden.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich