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„Die Verkündigung soll das Ziel der Kirchenmusik sein“: Irmgard Stingel, ehemalige Kantorin von Braunsfeld, feierte 80. Geburtstag

Ihre Herkunft kann Irmgard Stingel nicht leugnen. Will sie auch nicht. „Mein leichtes Schwäbeln war nie ein Problem. Auf meinen Reisen nicht und auch nicht in Köln.“ In der Domstadt lebt Stingel seit 1955. Damals setzte die Protestantin an der hiesigen Musikhochschule das 1946 in ihrer Geburtsstadt Stuttgart begonnene Kirchenmusikstudium fort. Von 1957 an war sie 35 Jahre Kantorin und Organistin der Evangelischen Clarenbach-Kirchengemeinde Köln-Braunsfeld. Jetzt feierte Stingel ihren 80. Geburtstag. Noch immer ist die Musik ihre tägliche Begleiterin. Regelmäßig sitzt sie am Klavier in ihrer Wohnung in Köln-Lindenthal. „Ich tue noch eine ganze Menge“, formuliert die Pensionärin. Unter Anleitung griff sie das erste Mal mit acht Jahren in die Tasten. 1941 debütierte sie an einer Orgel. Das war in Güglingen, wo ihr Vater als Landarzt praktizierte. Der Organist der Heimatgemeinde im Kreis Heilbronn war zum Kriegsdienst eingezogen. Zwecks Vertretung bat man Stingel auf die Orgelempore – das war ihr erster „Auftritt“..



„Wurf ins kalte Wasser“
Was sich im Nachhinein als zukunftsweisend entpuppen sollte, kam zunächst dem redensartlichen Wurf ins kalte Wasser gleich. Denn ihre Orgel-Kenntnisse waren bis dahin theoretischer Natur und beschränkten sich auf den Hörgenuss. „Am Anfang improvisierte ich überwiegend, dachte mir für die Gottesdienste Choralvorspiele aus. Aufgrund meiner Klaviererfahrung konnte ich mit den Händen gut arbeiten. Mit dem Pedalspiel haperte es aber noch. Ein Onkel hat mir dann ein paar Stunden gegeben. Vor allem habe ich mir viel selber angeeignet, viel auswendig gelernt.“ Unter anderem hörte sie häufig Radio. „Dabei lernte ich gute Musik, gute Chöre kennen. Musikalisch gesehen war es für mich eine reiche Zeit“, beschreibt sie die damalige Entwicklung. Früh habe sie die Wirkung der Musik gespürt, das, was diese an Empfindungen und Ergriffenheit auszulösen vermag. Zudem habe sie in sich die Gabe des Improvisierens entdeckt, schätzen gelernt und geschult. „Es war rasch klar, dass ich mich in diesem Bereich weiterbilden wollte.“

Unangemeldet vor des Professors Haustür“
Ihre Begabung blieb auch dem renommierten Orgelwissenschaftler Hermann Keller nicht verborgen. Der damalige Direktor der Stuttgarter Musikhochschule hatte sie sogar zum Vorspielen eingeladen. Bald darauf, 1945, nutzte die frisch gebackene Abiturientin eine Mitfahrgelegenheit. Und stand unangemeldet vor des Professors Haustür im Stuttgarter Stadtteil Degerloch. Seine Verwunderung darüber muss weitaus geringer gwesen sein, als über den Umstand, dass Stingel keine Noten mitgebracht hatte. Die Verblüffung mag sich gesteigert haben, als die junge Frau das Bach´sche H-Moll Präludium auswendig und fehlerfrei vortrug. „Das war ziemlich tadellos“, erinnert sich die Musikerin noch heute. Gleichwohl holte Keller das Talent auf den Boden zurück. „Er bat mich zusätzlich um eine einfache Tonleiter, und hörte statt eines f ein fis heraus.“ Von da an fuhr die junge Frau einmal die Woche mit dem Zug in die Schwabenmetropole, ein Jahr lang. Kellers Privatunterricht war umfassend. Und er war kostenfrei, wie Stingel spät und fast beiläufig erfahren sollte. Derart gut vorbereitet, wurde die Aufnahme auf die Musikhochschule Stuttgart 1946 zur Formsache. Drei Jahre später bestand sie die kirchenmusikalische B-Prüfung. Gleichzeitig leitete sie mehrere Laienchöre und spielte regelmäßig in Gottesdiensten.

„Voller Respekt “ zum Internationalen Bach-Wettbewerb
Als großes Erlebnis beschreibt Stingel ihre von Keller veranlasste Teilnahme am Internationalen Bach-Wettbewerb anlässlich des 200. Todestages des Komponisten 1950 in Leipzig. Geladen waren insgesamt 16 Organisten. Darunter Koryphäen wie Karl Richter. Gespielt wurde in verschiedenen Städten. Stingel trat in der Ostberliner Marienkirche auf. Voller Respekt sei sie gewesen, blickt die Seniorin heute zurück. Ihrer Darbietung scheint das nicht geschadet zu haben. Drei Wochen später fand sie im Briefkasten den Juryentscheid der veranstaltenden Bach-Gesellschaft. Er enthielt nicht nur eine Auszeichnung für ihr Literaturspiel und ihre Improvisation, sondern auch eine Einladung zum 14-tägigen Bach-Fest in Leipzig. „Das war eine interessante Zeit. Auf einem Empfang habe ich sogar Dmitrij Schostakowitsch kennengelernt. Wir wechselten aber nur wenige Sätze. So sagte mir der Komponist, er spiele täglich Bach, das sei sein täglich Brot.“

Erst mal „kein großes Interesse, in Köln Organistin zu werden“
1955 schrieb sich Stingel an der Kölner Hochschule ein. „Schon im ersten Semester vertrat ich hin und wieder den damaligen Kantor Karl Achilles an der Orgel in der Antoniterkirche“, erinnert sie. „Aber ich benötigte auch eine Orgel zum Üben.“ Auf Vermittlung ihres Hochschullehrers Professor Hans Klotz, der Presbyter in der Clarenbach-Kirchengemeinde war, machte sie damals erste Bekanntschaft mit dem Instrument in der Clarenbachkirche. 1957 wurde die dortige Organistenposition vakant. „Obwohl ich das A-Examen gerade erst in Angriff genommen hatte – und das war Voraussetzung für die Stelle -, hat man mir angeboten, dort zu spielen und die Chorleitung zu übernehmen. Dabei lagen der Gemeinde etliche Bewerbungen vor, und mein Interesse, in Köln Organistin zu werden, war zunächst nicht sehr groß.“

Und dann kam alles anders…..
Im selben Jahr legte sie, mit der Note Eins, das staatliche A-Examen ab. 1965 folgten die künstlerische Reifeprüfung sowie das Konzertexamen im Fach Orgel. Die Reifeprüfung absolvierte sie mit Auszeichnung. Um das Maß ihrer Qualität, um die fachmännische Wertschätzung noch deutlicher zu machen, gaben ihr die Prüfer in Köln, unter ihnen Dom-Organist Professor Zimmermann, mit auf den Weg: „So eine Note wird hier nur alle zehn bis zwanzig Jahre vergeben!“ Zu diesem Zeitpunkt fungierte Stingel bereits seit acht Jahren als Kirchenmusikerin an der Clarenbachkirche. „Ich wollte dann doch hier bleiben“, begründet sie salopp. Bis 1992 verwandte sie ihr Können für die vielseitige musikalische Gestaltung der Gottesdienste. Eine Herzensangelegenheit wurde auch der Chor, der unter ihrer Leitung wuchs und erblühte und mit dem sie regelmäßig Kantaten und Oratorien aufführte. Kirchenmusik habe stets eine religiöse Dimension, meint sie. „Die Kirchenmusik nimmt teil an der Verkündigung. Die Verkündigung soll das Ziel der Kirchenmusik sein. Das war für mich die Richtschnur. Die Kirchenmusik nimmt teil am Leben, am Denken, an der Anbetung, der Klage. Sie kann trösten, heilen, seelsorgerisch sein und dem Nächsten dienen.“ Dies gelte unabhängig von Anlass und Ort. Also auch für Konzerte.

Außerdem: „rege“ – und sehr erfolgreiche – Konzerttätigkeit
Ergänzend zu ihrer Aufgabe als Kantorin begann Stingel Mitte der sechziger Jahre eine „rege Konzerttätigkeit“. Diese führte sie auch ins europäische Ausland. Athen, Edinburgh, Glasgow, Stockholm – das sind nur wenige der Stationen, an denen sie gerne Bach, Buxtehude und Scarlatti, aber auch Werke von Reger und zeitgenössischen Komponisten vortrug. „Ich habe mich nie irgendwo gemeldet, bin immer eingeladen worden.“ Kein Wunder, wenn man einige der Kritiken liest. In ihnen wird etwa die glänzende Technik der deutschen Organistin betont, ihr unfehlbares Rhythmusgefühl, ihre souveräne Textbeherrschung, starke Gestaltungskraft, farbige Registrierung und mustergültige Interpretation. Anderswo ist von der konzentrierten geistigen Durchdringung der Stücke die Rede, von Sorgfalt und Achtung ihnen gegenüber, vom Hörbarmachen ihres theologisch-musikalischen Gehaltes.



Musik ist ihr „Lebenselexier“
Zu ihrem 80. Geburtstag sagt sie: „Musik ist ein Lebenselexier, ein großes Geschenk. Mein Leben ist durch sie bestimmt worden“, und empfindet „wahnsinniges Glück“ darüber, ihr so früh begegnet zu sein. Daraus lässt sich zutreffend schließen, dass Stingels musikalische „Karriere“ mit ihrer Pensionierung 1992 mitnichten endete. Sie spielt noch immer in Gottesdiensten und Messen in Kölner Kirchen, evangelischen wie katholischen. Sie gibt weiterhin Konzerte und gestaltete etwa in St. Laurentius in Lindenthal „ehrenamtlich besondere Musiken mit Solisten, Chor und Instrumenten“. Auf die Frage nach dem schönsten Instrument, das sie spielen durfte, antwortet die 80-Jährige diplomatisch: „Die beste Orgel zu benennen, wäre anmaßend. Jede ist anders. Es gibt so viele, die toll sind.“



Text: Engelbert Broich
Foto(s): Broich