Liebe Gemeinde,
„Unterbrechung ist die kürzeste Definition von Religion“. Das sagte einmal der bedeutende katholische Theologe Johann Baptist Metz. Können wir am heutigen Heiligend Abend etwas mit dieser Begriffsbestimmung anfangen? Wörtlich übersetzt, heißt religio „Rück-Bindung“.
Am Heiligen Abend brauchen wir eigentlich keine Definition von Religion. Denn die „Rück-Bindung“ erfolgt an diesem Abend unmittelbar. Wir haben es eben gehört:
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, das alle Welt geschätzet würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war…“
So beginnt die biblische Urerzählung christlicher Erzählkultur.
Dass Religion Rück-Bindung ist, das ist in dieser Geschichte schon von Beginn an so angelegt. Wir werden in diese Geschichte unmittelbar mit hineingenommen. Im weiteren Verlauf wird es dann offensichtlich, dass Religion auch Unterbrechung ist, denn das haben schon die Hirten auf dem Feld erlebt als sie hingingen zu sehen, was da geschehen ist. Und so auch bei uns bis in unsere heutigen Tage hinein. Weihnachten ist Rück-Bindung und Unterbrechung zugleich: Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas unterbricht alle Jahre wieder den Lauf unserer Zeit. Hätten wir als Menschen so etwas wie die Jahresringe der Bäume, wir könnten an diesen Ringen wahrscheinlich auch so etwas wie die zurückliegenden Weihnachten unseres Lebens ablesen. Durch erlebtes Weihnachten, ja, da ist Religion, biographisch verifizierbar. Rückbindung erfolgt unweigerlich, auch in aller Widersprüchlichkeit.
Die Geschichte vom Kind in der Krippe hat ihren festen Platz in unserer Lebensgeschichte. Wenn wir von dieser einen Geschichte hören, die sich da zugetragen hat, lassen wir die Historizität des Geschehenen einmal beiseite, dann lockt dieses: „Es begab sich aber …“ Erinnerungen hervor an die Heiligen Abende unserer Kindheit: Geheimnisvolles hinter verschlossenen Türen, verzauberte Blicke auf den Stall zu Bethlehem.
Erinnerungen an Weihnachten bleiben wie eingebrannt in unseren Seelen, auch als wir dann als Erwachsene in den Augen der Kinder die Verzauberung und das Staunen erblicken konnten. Und Erinnerungen werden besonders dann wach an Weihnachtstagen, in denen die Familie gerade nicht mehr beisammen sein kann und wir es alleine schaffen müssen und es uns mal gerade so gelingt, Weihnachten für uns gut und vielleicht nur erträglich zu gestalten. Und es ist einfach immer noch so: In all diese Erinnerungen hinein wird Gott Mensch. In all diese Erinnerungen hinein erfolgt die Inkarnation Gottes im Kind in der Krippe als Teil unserer eigenen Lebensgeschichte.
„Es begab sich aber zu der Zeit…“ das lässt für so viele Menschen bis heute einmal im Jahr alle Jahre wieder alles andere nebensächlich werden. Und das ist gut so, wenn das gelingt. Schon damals unterbrachen die Hirten auf dem Felde ihre harte Arbeit. Sie konnten nicht anders als hinzugehen und zu sehen.
Bis heute erkennen wir daran: Religion ist wahrlich Unterbrechung des Gewöhnlichen, der eingefahrenen Lebens- und Arbeitsstrukturen und Gewohnheiten. Sie ist Unterbrechung des grauen Alltags. Wir wissen nur zu gut: das brauchen wir. Sie ist gerade dann notwendig, diese Unterbrechung, wenn das innere und äußere Hamsterrad auf vollen Touren läuft, wenn wir im „Lauf der Dinge“ ohne Unterbrechung nicht mehr wissen, wo wir stehen, woran wir uns halten, wo wir Orientierung finden können. Innehalten, schauen, wo wir sind, das haben schon die Weisen aus dem Morgenlande getan, viel früher als die Hirten. Sie mussten innehalten, ihren Lauf unterbrechen, sich ausrichten nach dem Stern, dem sie zu folgen wagten.
Unterbrechung ist das, was uns im Letzten auf Antworten danach suchen lässt, was Leben wirklich ausmacht. Unterbrechung ist das, was uns nach Vergewisserung fragen lässt, wenn uns die Erfahrung abhanden gekommen ist, dass wir Teil eines Ganzen sind, und wir merken, dass wir uns nicht selbst genügen. Wir brauchen die Unterbrechungen des Alltags, des eingefahrenen Funktionierens, der gewohnten Denkmuster.
Wir brauchen die Erfahrung, dass wir nicht nur Teil eines Räderwerkes sind, das uns von außen bewegt, unablässig. Wir brauchen Pausen zur Erholung, zum Kraftschöpfen, Fixpunkte, auf die wir uns besinnen, die uns innehalten lassen, uns konzentrieren lassen, auf das was uns neu ausrichten kann: Kraft schöpfen, Atem holen, vielleicht in Einklang mit Gottes Atem. So werden wir bereit für die jahrtausendealte Botschaft, auch für den Predigttext an diesem Heiligen Abend, sperrig ist er, unweihnachtlich, aber nur auf den ersten Blick.
Titus 2,11-13:
11 Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
12 und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben
13 und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus.
Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen – das ist die komprimierte Aussage des „In-der-Welt-Sein“ Gottes und zwar im Kind in der Krippe wie auch im weiteren Christusgeschehen, das erfahrbar, rettend und heilsam für alle sein will. Und wir warten, wir unterbrechen den Lauf der Dinge, die Hast unseres Lebens, denn wir warten auf die selige Hoffnung und die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus. Religion ist Warten, bedeutet Erwartung in guter Hoffnung, eben Unterbrechung, offen werden, erwartungsvoll dem entgegensehen, was kommt, was uns verheißen ist.
Warum?
Damit wir uns neu ausrichten und orientieren können. Damit wir zu einer Verlangsamung unseres Lebens kommen: Stehen bleiben, uns aufrichten, dem Stern folgen, sehen, was geschehen ist und staunen, wie die Kinder es noch können. Diese heilsame Gnade Gottes, sie gilt uns in einem ganzen, umfassenden Sinne. Denn viele empfinden es so, dass wir doch in einer eher ungnädigen Zeit leben, in der nur des Starke, das Schöne und Perfekte zählen. Ich muss eine Top-Leistung bringen, um meinen Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Ich muss mich fit halten, um den gestiegenen Erwartungen und Anforderungen gewachsen zu sein. Ich muss mich in den vielfältigen Wellness- und Fitnessangeboten attraktiv und konkurrenzfähig halten, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Unterbrechungen wünschen sich viele Menschen, um die Werte und Ziele, denen wir uns bewusst oder unbewusst ausgeliefert haben, zu hinterfragen, die Zwanghaftigkeit einer auf Stärke und Macht ausgerichteten Erfolgskultur. Es geht nicht immer nur aufwärts, es gibt mehr als immer nur mehr – in diesem fatalen materiellen Sinne. Es gibt auch ein Wachstum, das mehr Lebensqualität mit sich bringt.
Viele Menschen wünschen sich auch für diese Welt, dass sie sich ganz im globalen Sinne neu ausrichten möge und wir alle innehalten, „dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben“. Hier klingt der Predigttext sicher sehr altbacken und kommt daher in einem verstaubt-freudlosen Sprachgewand. Doch diese Formulierungen, sie treffen auch den Kern dessen, was wir brauchen, was diese Welt braucht.
Die Begehrlichkeiten, das immer Mehr und Mehr, das hat die Welt im letzten Jahr an den Rand einer umfassenden Katastrophe gebracht. Und haben wirklich alle innegehalten? Kam es zu einer Neuausrichtung des Wirtschaftens für das Leben?
Besonnen, gerecht und fromm zu werden, dazu ruft uns der Predigttext an diesem Heiligen Abend auf und das, während wir erstaunt lesen, dass die Investment-Banker wieder ihr Billionen-Monopoly spielen. Die Realwirtschaft berappelt sich nur mühsam und die Zahl der Arbeitslosen steigt unaufhörlich. Und die Rede ist wieder von den gigantischen Gewinnen und Boni, welche die Investmentbanker mit dem Geld erzielen, das sie mit verbilligtem Zins erhalten haben, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Wohingegen andere, die ihre persönlichen Ersparnisse, die sie im vergangenen Jahr verloren haben, ihre Verluste nie mehr werden ausgleichen können. Kein Innehalten, Weitermachen wie bisher? Viele sind auch enttäuscht über das Scheitern der Weltklimakonferenz. Es scheint geradezu ausweglos zu sein: die Wirtschaft muss wieder auf Erfolgskurs gebracht werden, damit die Menschen Lohn und Brot verdienen können und unser soziales und politisches Gefüge nicht auseinander bricht. Unsere Erde sehnt sich nach Unterbrechung, nach Neuausrichtung, einem verantwortlichen Umgang mit ihren Ressourcen und einem Rückgang der Belastungen unserer Erdatmosphäre.
„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen“ und aller Welt. Diese heilsame Gnade wünsche ich mir – für uns wie für das wünsche ich mir, das wünsche ich uns und auch Gottes guter Schöpfung.
In diesem Jahr gibt es einen Tag Unterbrechung mehr. Für die Ruhe den am Sonntag, 27. Dezember, haben wir uns – zum Glück erfolgreich – als Kirche, als Kirchen sehr stark gemacht. Dafür, dass als 3. der dritte Weihnachtstag, nicht verkaufsoffen, sondern als „Verlängerung der Unterbrechung“ als ein weiterer freier Tag ohne Arbeit, ohne die Möglichkeit einzukaufen oder Geschenke umzutauschen bleiben kann.Einkaufen –
So wünsche ich Ihnen und mir selbst, dass es gelingen möge, Weihnachten in diesem Jahr etwas ruhiger anzugehen als sonst, sich Zeit zu nehmen füreinander, für sich selbst und für die Besinnung auf das Wesentliche unseres Lebens, auf die Unterbrechungen, die uns neue Blickeweisen verschaffen können.
Amen
Foto(s): AL