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Die „heimlichen evangelischen Gemeinden“ von Köln-Mülheim

Vor 400 Jahren fand in Köln-Mülheim der erste freie, öffentliche evangelische Gottesdienst statt, und der Rückblick auf die lange und wechselvolle Geschichte der Protestantinnen und Protestanten auf der rechten Rheinseite zieht sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltungen im Jubiläumsjahr der Evangelischen Kirchengemeinde Mülheim am Rhein. Eine Führung der AntoniterCityTours beschäftigte sich jetzt schwerpunktmäßig mit der Geschichte der reformierten Gemeinden in Köln-Mülheim – früher und heute.

Zusammenschluss auf Druck der Preußen
Dietrich Grütjen, früher selbst Pfarrer der evangelischen Gemeinde Mülheim, hat sich intensiv mit der Historie des Protestantismus im heutigen Kölner Stadtteil beschäftigt und führte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ebenso sachkundig wie unterhaltsam durch 400 Jahre evangelisch-reformierte Geschichte. Wobei er gleich zu Beginn verdeutlichte: „Sie werden sehr viel Fantasie aufbringen müssen. Ich kann Ihnen mehr erzählen als zeigen.“ Der Rundgang startete in der evangelischen Friedenskirche an der Wallstraße, dem heutigen Zentrum des protestantischen Lebens im Stadtteil. „Die wurde 1786 erbaut, nachdem der Vorgängerbau, der näher am Rhein stand, bei der großen Eisflut von 1784 zerstört worden war“, erläuterte Grütjen. Zunächst hieß sie Andreaskirche und war das Gotteshaus der Lutheraner in Mülheim. Ihren heutigen Namen erhielt sie erst 1837, als, auf Drängen des damaligen Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III., die damalige lutherische und die reformierte Gemeinde sich zur unierten Kirchengemeinde Mülheim am Rhein zusammenschlossen. „Der Frieden zwischen diesen beiden Gruppierungen wurde durch den Namen der Kirche dokumentiert“, so Grütjen. Bezeichnenderweise stehen heute links und rechts vom Altar zwei Schaukästen mit Erinnerungsstücken sowohl lutherischer als auch reformierter Vergangenheit: das Abendmahlsgeschirr, das der Tuchfabrikant und lutherische Mäzen Christoph Andreae der Gemeinde gestiftet hat, und die so genannte „Eisbibel“, die bei eben jener Eisflut auf einer Eisscholle reibend in der reformierten Kirche angetrieben wurde.

Allein das Wort war ausschlaggebend
Wie kam es aber überhaupt zu der Trennung zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden? Grütjen tauchte auf dem Weg von der Friedenskirche über die Buchheimer Straße zur Mülheimer Freiheit und das Rheinufer tief in die Geschichte der Reformation ein. „Die Reformation verlief hauptsächlich in zwei Strömungen. Zum einen von Wittenberg aus mit Martin Luther als Protagonist. Diese Strömung erfolgte immer in enger Anbindung an die jeweiligen Landesherren, was nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 darin gipfelte, dass der jeweilige Landesfürst die Religion seiner Untertanen bestimmte. Die Lutheraner waren immer eng verknüpft mit den höchsten Ebenen der protestantischen politischen Führung. Die andere Strömung, die vor allem von Calvin und Zwingli forciert wurde, hatte ihre Ursprünge in der Schweiz und in den Niederlanden. Die so genannten Reformierten verstanden sich als Glaubensgemeinschaft, bei der einzig und allein das Wort Gottes, wie es in der Bibel verkündet wird, ausschlaggebend ist. Sie zeichneten sich vor allem durch einen sehr hohen Organisationsgrad innerhalb ihrer Gemeinden aus.“ An der Formesstraße, dort, wo heute die Mülheimer Brücke in den Stadtteil hereinragt, stand bis zu deren Bau 1926 das reformierte Gotteshaus. 1665 erwarb die Gemeinde dort zwei Häuser und fügte sie zu einem Predigthaus zusammen.

Protestantische Unternehmer brachten Wohlstand und Anerkennung
Als die südlichen Niederlande im 16. Jahrhundert vom katholischen Spanien besetzt wurde, waren es vor allem reformierte Protestantinnen und Protestanten, die die Flucht ergriffen und entlang der bestehenden Handelswege bis nach Köln kamen. „Dort gab es Ende des 16. Jahrhunderts vier heimliche evangelische Gemeinden: eine lutherische und drei reformierte“, erzählte Grütjen. Und da auch die Domstadt den Evangelen nicht gerade freundlich gesonnen war, zogen viele von ihnen auf die andere Rheinseite nach Mülheim. Das gehörte damals zum Herzogtum Jülich-Kleve-Berg. Dessen Landesfürst, Herzog Johann Wilhelm, war zwar ebenfalls katholisch, die langjährige Rivalität zu Köln aber war stärker als die Glaubensunterschiede. „Politische und Machtgründe bewogen den Herzog zur Aufnahme der Flüchtlinge, die durchweg fähige und erfahrene Handwerker und Händler waren“, betonte Grütjen. So waren es vor allem diese protestantischen Unternehmer wie die Tuchfabrikanten Andreae, die für den Aufschwung Mülheims verantwortlich waren. Und als nach dem Tode von Johann Wilhelm das Herzogtum an die beiden evangelischen Landesfürsten Albert Friedrich von Brandenburg, Herzog von Preußen, und Pfalzgraf Philipp Ludwig Pfalz-Neuburg fiel, schien der Protestantismus in Mülheim am Ziel zu sein: 1610 fand der erste öffentliche Gottesdienst statt. Die Zahl der lutherischen Protestantinnen und Protestanten betrug etwa 200 bis 300, die der Reformierten war doppelt so groß.

Strenge Organisation der Reformierten half beim Überleben
Doch schon wenige Jahre später war die Herrlichkeit zunächst wieder vorbei. Die beiden Landesherren konvertierten aus politischen Gründen zum Katholizismus, und Köln setzte 1615 vor dem Reichskammergericht durch, dass es die seit 1610 entstandenen Neubauten in Mülheim, also auch die evangelischen, abreißen durfte. Nur wenig später brach der Dreißigjährige Krieg aus. „Hier zeigten sich die Reformierten als wesentlich widerstandsfähiger. Während die Lutheraner mit ihrer Orientierung an die Landesfürsten untergingen – es gab in den Wirren keine funktionierenden Herrschaftsstrukturen mehr – schafften es die Reformierten mit ihrem starken inneren Zusammenhalt, auch diese schwere Zeit zu überstehen“, berichtete Grütjen. Mit ihrem Fleiß und hohen Anspruch sorgten sie sogar für ein geflügeltes Wort in dieser Zeit: „Willst reich werden auf Erden, musst Du calvinisch werden.“ Die strenge Ausrichtung auf das Wort und der Verzicht auf Schmuck und Schnörkel wurden jedoch nicht so ganz konsequent durchgehalten. In den 1750er Jahren gab es eine geradezu revolutionäre Neuerung im reformierten Predigthaus: eine Orgel. „Bei der Einweihungsfeier wurde allerdings eine Predigt gehalten, in der gegen alles Eitle auf der Welt gewettert wurde“, schmunzelte Grütjen.

Viele Gegenströmungen im Laufe der Jahrhunderte
Wie gesagt, dass alles mussten sich die Teilnehmenden an der Führung selbst ausmalen. Bestehende Zeugnisse davon gibt es nicht mehr, spätestens bei der alliierten Bombardierung Mülheims am 28. Oktober 1944 wurden alte protestantische Gebäude zerstört. Was allerdings heute zu sehen ist und was Grütjen den interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern auch zeigte, sind viele aktuelle Beweise von Gegenströmungen im reformatorischen Bereich, die heute in Mülheim existent sind. „Diese Strömungen hat es im Laufe der Jahrhunderte immer gegeben. Da für die Reformierten einzig und allein die Bibel die Grundlage ihres Glaubens ist, gibt es nicht so etwas wie die anerkannte Autorität einer Kirche. Wer die Bibeltexte anders auslegte und dafür Anhängerinnen und Anhänger findet, gründet einfach seine eigene Glaubensgemeinschaft. An der Ecke Buchheimer Straße/Formesstraße verkündet ein schlichtes Schild an einem Hauseingang: „Hier wird Gottes Wort verkündet“. In dem Haus trifft sich die Brüdergemeinschaft. Nur wenige Meter weiter auf der Buchheimer Straße in Richtung Wiener Platz leuchtet ein bunter Regenbogen über einem Ladenlokal, das Zentrum der „Metropolitan Community Church“ (MCC). „In dieser in den USA entstandenen Bewegung sind vor allem viele homosexuelle Protestantinnen und Protestanten Mitglied, die eben wegen ihrer Homosexualität in anderen Glaubensgemeinschaften nicht akzeptiert wurden“, erläuterte Grütjen. Und die weltweit größte evangelische Gruppierung, die Baptisten, ist ebenfalls in Mülheim vertreten: in einem ockerfarbenen Haus an der Salzstraße, nahe des Rheinufers. Auch die Baptisten sind aus der reformierten Tradition entstanden. Und diese hohe Dichte an unterschiedlichen protestantischen Gruppierungen zeigt, dass Mülheim heute noch genauso wie vor 400 Jahren ein gutes Pflaster für Menschen evangelischen Glaubens ist.

Text: Jörg Fleischer
Foto(s): Fleischer