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Die Chancen des Zweifelns

„Ist jemand da draußen? Wenn ja, wer?“ Um Fragen, Zweifel und Glaubenskritik kreist Leonard Bernsteins Musiktheaterstück „Mass“, das im Rahmen des ACHT BRÜCKEN-Festivals im Mai in der Kölner Philharmonie durch den Kölner Bach-Verein eine seiner seltenen Aufführungen erlebte.

Dies nahm die Evangelische Kirchengemeinde Köln-Dellbrück/Holweide zum Anlass für eine Veranstaltungsreihe mit vier Gesprächsabenden und einem musikalischen Gottesdienst, in dem der Gospelchor Voice TABS und der Jugendchor Singaholics Auszüge aus Bernsteins „Mass“ präsentierten.

Der Glaube in der Krise
Das 1971 uraufgeführte Werk bündelt Bernsteins Fragen an Kirche und Gesellschaft: Was ist das für ein Gott, der Krieg und Gewalt zulässt? Was sind das für Messrituale, deren Sinn ich nicht mehr verstehe? Wo komme ich selbst vor in dieser Kirche? Er legt sie seinem „Street Chorus“ in den Mund, einer Gruppe von Leuten, die damit in eine katholische Messe platzen und den Zelebranten so verunsichern, dass auch er schließlich die Fassung verliert, das Abendmahlsgeschirr zu Boden wirft und halb wahnsinnig wird vor Selbstzweifeln und Sinnfragen. „Das Werk, das ich mein ganzes Leben lang immer wieder geschrieben habe, handelt von jenem Kampf, der aus der Krise unseres Jahrhunderts, einer Krise des Glaubens, erwächst“, kommentierte der Komponist.

Zündstoff für Zweifler
Und auch wenn das Werk versöhnlich endet, wenn am Schluss die Menschen wieder zueinander und zu Gott zu finden scheinen, sind doch seine zentralen Fragen bis heute nicht beantwortet. Dadurch liefert „Mass“ neben seiner bombastischen Crossover-Musik mit Jazz-, Rock-, Musical- und avantgardistischen Elementen bis heute Zündstoff für kritische Auseinandersetzungen mit unserem Glauben.
Raum für weiterführende Diskussionen schuf eine vierteilige Gesprächsreihe, die verschiedene Perspektiven aufgriff. Zum ersten Termin war Thomas Neuhoff geladen, der die halbszenische Aufführung in der Philharmonie geleitet hatte und über „Musik und Un-Glaube“ sprach. Zum zweiten Termin kam mit Martin Füg der Regisseur der Kölner „Mass“ zu Wort. Er berichtete unter dem Motto „We’ve got quarrels and questions“ (Wir hatten Auseinandersetzungen und Fragen) über seine Erfahrungen bei der Arbeit mit diesem gewaltigen Stück, das Fragen stellt: Was ist dein eigener Antrieb zum Leben? Wieviel Bindung an hergebrachte Traditionen brauchst du? Wieviel Freiheit davon? Der dritte Termin widmete sich der Rolle von geistlicher Musik in Krisenzeiten. Die Musikwissenschaftlerin Helga Heyder-Späth fragte: „Kann man heute eigentlich noch Choräle singen?“

How easily things get broken
„Wie leicht gehen Dinge zu Bruch“, stellt der Zelebrant in Bernsteins „Mass“ fest; wie leicht wird beschädigt, was das Leben einst schützte und was Menschen barg! Welche Quellen für Solidarität und Mitleid stehen zur Verfügung? Wo wachsen uns Hoffnungsbilder so zu, dass das beschädigte Leben heil werden kann?
Am letzten Gesprächsabend mit Pfarrer Ulrich Kock-Blunk ging es schließlich um den Blick nach vorn, um die Chancen von Glaube und Gemeinschaft. Auch im Taufgottesdienst, der die Veranstaltungsreihe am 12. Juni abschloss, griff der Pfarrer der Versöhnungskirche diese Aspekte noch einmal auf: „Wir stellen uns diese Fragen, weil der Ernstfall des Glaubens nicht der Gottesdienst ist, sondern der Alltag. Es ist leicht, Dinge kaputt zu kriegen, aber was kommt dann? Was kommt, wenn wir zerbrochen haben, was uns heilig ist?“ Vielleicht würden wir erst dann feststellen, welchen Stellenwert die Dinge hätten, die uns so selbstverständlich scheinen – als Beispiel nennt Ulrich Kock-Blunk hier den freien Sonntag als Struktur für unser gemeinschaftliches Zusammenleben, aber auch den Schutz der Menschenwürde, der in der andauernden Flüchtlingskrise immer häufiger hintenangestellt werde.

Musik mit Hindernissen
Um Unsicherheit und Orientierungsverlust auszudrücken, komponierte Leonard Bernstein Musik, die von dem abweicht, was vertraut und leicht singbar ist. In dem Satz „Almighty Father“ bekam das auch die Gemeinde zu spüren, mit der die Chorleiterin Mechthild Brand das kurze Stück vor dem Gottesdienst einstudierte. Taktwechsel, ungewohnte Tonsprünge und schwierige Melodieverläufe waren zu meistern, als sich Gemeinde und Chor gemeinsam an diese vertonte Segensbitte wagten.
Den Respekt für die Darbietungen von Voice TABS und Singaholics vermehrte das nur. Die beiden Chöre hatten im Gottesdienst mehrere Sätze aus „Mass“ gesungen, begleitet von Roland Techet am Klavier, und dafür anerkennenden Applaus erhalten. Besonders die schlichte Reprise des „Simple Song“ durch den Jugendchor, die im Werk die Wendung zum versöhnlichen Ende markiert, rührte und begeisterte die Gemeinde. Nach aller Kritik an Pomp und Gloria des katholischen Kirchenritus‘ hieß es dann: „Singt Gott ein einfaches Lied, so wie es euch in den Sinn kommt. […] Gott liebt die einfachen Dinge, denn Gott ist das einfachste von allen.“

Text: Kristina Pott
Foto(s): Kristina Pott