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Bernd-Ullrich Stock griff zur Gitarre und sang passend zum Thema „Selig sind, die Frieden stiften.“

Der Superintendent als IM – wie ein Pfarrer die Wende erlebte. Ein Zeitzeuge des Mauerfalls in der Friedenskirchengemeinde Erftstadt

„Der 9. November ist in mehrfacher Hinsicht ein Schicksalstag für Deutschland. 1918 rief Philip Scheidemann die Republik aus, 1938 steckten die Nazis jüdische Synagogen in Brand und 1989 öffnete sich die Mauer im geteilten Deutschland“, mit diesen Worten begrüßte Gemeindemitglied Prof. Dr. Siegfried Hermle die Gäste der Friedenskirchengemeinde Erftstadt. „Wir haben heute einen Zeitzeugen des Mauerfalls zu Gast, wollen aber die anderen Ereignisse nicht vergessen.“ Bernd-Ullrich Stock, Pfarrer im Ruhestand, hat die DDR-Zeit, die Wende und die Wiedervereinigung hautnah in seiner Gemeinde miterlebt und hatte viel zu erzählen.

Bloß nicht in den Westen gucken

Bernd-Ullrich Stock stammt aus Dönitz, ist 10 Kilometer entfernt von der innerdeutschen Grenze aufgewachsen. Schon als Jugendlicher bekam er die Besonderheiten dieser Grenze zu spüren. „Anfangs durfte man gar nicht in die Nähe der Grenze, da wurde schon kontrolliert. Später haben sie den Elbedeich richtig hoch aufgemauert, man sollte bloß nicht in den Westen gucken.“ Und die Erfahrungen gingen noch weiter. Wer etwas werden wollte, musste loyal zum Staat stehen. „Ich habe nicht an der Jugendweihe, dem staatlichen Ersatz für die Konfirmation, teilgenommen, also konnte ich kein Abitur machen.“

Bernd-Ullrich Stock machte eine Ausbildung bei Carl Zeiss in Jena, danach rief die Armee. „Ich wollte verweigern, da gab es die sogenannten Bausoldaten als Armee-Ersatz. Ich habe mich aber überreden lassen, einen hochwertigen Dienst wie Sanitätsfahrer in der Armee zu machen.“ Hier erfuhr er mit Erstaunen, dass auch die harten Verfechter des Sozialismus am eigenen System verzweifelten: „Für unseren Politoffizier, einen überzeugten Sozialisten, mussten wir immer in den Wald fahren und Holz für seine private Datsche besorgen. Es gab sonst einfach kein Holz. Das wurde natürlich totgeschwiegen.“

Als Pfarrer hatte man eine gewisse Narrenfreiheit

Nach der Armee kam Bernd-Ullrich Stock mit dem Christlichen Verein junger Menschen (CVJM) in Kontakt und entdeckte hier seine Begeisterung für die Theologie. „Die Kirche hatte eigene Ausbildungsstätten, da bekam ich meine Chance.“ Er bewarb sich in Erfurt für ein Theologiestudium, wurde angenommen und fand eine einzigartige Wohnung: „Ich habe viereinhalb Jahre neben Luthers Zelle geübt.“ Dann hat er mit seiner Frau eine Pfarre in Großrudestedt, später in Kranichfeld  in Thüringen übernommen.

„Als Pfarrer hatte man in der DDR eine gewisse Narrenfreiheit. Man konnte Dinge sagen und auch machen, wofür andere Schwierigkeiten bekommen hätten.“ So gingen seine Kinder nicht zu den Pionieren, durften aber trotzdem an den Pioniernachmittagen in der Schule teilnehmen. „Im Ort gab es nur vier Telefone, eines davon hatte der Pfarrer. Die staatstreue Lehrerin kam zu mir zum telefonieren, wir verstanden uns sehr gut.“

Hätte die Stasi Computer gehabt, wäre die Mauer nicht gefallen

Im Alltag hat Bernd-Ullrich Stock nichts von Repressalien mitbekommen, nach der Wende hat er sich seine Stasi-Akte angesehen, was ihn dann doch erstaunt hat. „Dort war glasklar notiert, dass ich staatsfeindliche Aussagen etwa in Sachen Raketenstationierung gemacht hatte. Auch eine Geldsammlung für Solidarnosc, die polnische Protestbewegung, war dort vermerkt.“ Wer allerdings einen Ausreiseantrag stellte, musste mit Sanktionen rechnen. „Der Job war weg, die Kinder konnten keine Ausbildung machen, der psychische Druck war enorm.” Das hat er in der eigenen Familie erlebt.

„Mein Schwiegervater wurde als Mitglied der Kirchensynode genötigt, von dort zu berichten. Er wurde darüber so krank, dass er später deshalb verstarb.“ Der Bruder hatte einen Ausreiseantrag gestellt, musste sein Haus billig an Genossen verkaufen, bevor er in den Westen konnte. Man profitierte allerdings sehr von der schlechten Kommunikation innerhalb der Stasi. Was in einem Ort verweigert wurde, ging 20 Kilometer entfernt ohne weiteres durch. „Die hatten keine Computer sondern notieren alles auf Karteikarten.“  Das half bei der Wende enorm, „hätte die Stasi Computer gehabt, wäre die Mauer nicht gefallen.“

DDR stand für „Der Doofe Rest“

Gegen Ende der 80er Jahre gab es immer mehr Ausreiseanträge, immer mehr Menschen waren auf einmal weg. „Die Kirchenleitung gab hier kein rühmliches Bild ab, wer als Pfarrer ohne Genehmigung der Kirche in den Westen ging, wurde dort nicht mehr angestellt. „In der Schweiz oder in Österreich war das aber kein Problem.“ Der Wunsch nach Ausreise war nicht mehr zu stoppen, gleichzeitig wuchs die Protestbewegung.

Die Öffnung der Grenze erlebte Bernd-Ullrich Stock mit einem Fernseher auf den Knien. „Wir hatten was getrunken, sonst wären wir auch losgefahren.“ Die Straße Richtung Grenze war komplett verstopft, alle wollten nur raus aus der DDR.  „Nach Öffnung der Mauer gab es ja immer noch die DDR. Man hat versucht, den Staat zu demokratisieren, das war aber völlig ausgeschlossen.“  Auch später ging die Ausreisewelle weiter, es gab kaum noch Ärzte in der DDR. „DDR stand für Der Doofe Rest.“

Der Superintendent war informeller Mitarbeiter (IM)

Nach der Wende brachten die Stasi-Akten einiges zu Tage, was Bernd-Ullrich Stock sprachlos machte. „Es waren so viele Leute, auch Funktionsträger aus der Kirche, als informelle Mitarbeiter (IM) der Stasi tätig.“ Der damalige Superintendent dachte wohl, er könne etwas bewirken und ist sogar mit seinem Führungsoffizier an den Balaton in Urlaub gefahren.“ Warum so viele Leute als IM unterschrieben hatten, erklärt Bernd-Ullrich Stock mit staatlicher Erpressung. „Wer sich etwas verbockt hatte, musste mit Repressalien für sich und seine Familie rechnen – es sei denn, er unterschrieb als IM.“

Fragerunde, Video und eine Gitarre

Als Zeitdokument hatte Bernd-Ullrich Stock ein Video mitgebracht, was anschaulich zeigte, wie er im Demokratischen Aufbruch engagiert war. In einer anschließenden Fragerunde stand er Rede und Antwort. „Waren in der DDR die Kirchen wegen des Glaubens so voll?“ „Nein, die Leute wollten reden. Die Kirchen hatten eine entscheidende Funktion in dieser Zeit. Als nach der Wende das Finanzamt die Kirchensteuer eintrieb, gab es eine Austrittswelle, die Kirchen wurden wieder leerer.“ „Wurde das Kreuz außen am Gemeindezentrum toleriert?“ „Es hat sie gestört, aber da haben sie sich nicht rangetraut.“ Zum Abschluss nahm  Bernd-Ullrich Stock seine Gitarre und sorgte mit dem selbst komponierten Lied „Selig sind die Frieden stiften“ für einen besinnlichen Ausklang der Veranstaltung.

Text: Dr. Klemens Surmann
Foto(s): Dr. Klemens Surmann