You are currently viewing Den Toten einen Namen gegeben

Den Toten einen Namen gegeben

Mit jedem Namen stieg die Beklemmung, die das Publikum in der Lutherkirche erfasste. 120 Namen waren es, die vorgelesen wurden. Die Namen von 120 Geflüchteten, die im Mittelmeer ertrunken sind. „Wir nennen die Namen und das Alter der Toten, um den Menschen ihre Würde zurück zu geben“, erklärt Pfarrer Hans Mörtter, der zu diesem Abend in der Kölner Südstadt eingeladen hatte. „Indem wir die Namen nennen, wollen wir auch ihre Seelen verabschieden. Es hat nie einen Abschied gegeben, sie sind einfach im Meer ertrunken, haben kein Grab und kein Begräbnis. Mit der Namensnennung geht es um Freigabe und Lösung, sowohl für die Toten als auch für die Trauernden. Wenn man nichts macht, dann hängt das alles noch im Raum, es gibt keinen Abschluss“, fährt Mörtter fort. Oft würden nur Zahlen genannt, wenn es um Geflüchtete gehe: „Doch dahinter stehen Menschen.“

„Mare nostrum“ hat Mörtter die Trauerfeier genannt. So nannten die Römer in antiker Zeit das Mittelmeer. „Mare Nostrum“ war aber auch eine Operation der italienischen Marine und Küstenwache betitelt zur Seenotrettung von Flüchtlingen aus meist afrikanischen Ländern, die versuchen, über das Mittelmeer Italien zu erreichen. Die Veranstaltung in der Lutherkirche war in zwei Abschnitte unterteilt. Der Abend begann mit Wilfried Hillers „Ijob“. In der 25-minütigen Oper wird in sieben Bildern die Geschichte eines Mannes heraufbeschworen, der alles verliert, weil Gott seinen Glauben prüfen will. Das Monodram, aufgeführt von Mitgliedern des Kölner Opern-Ensembles, lieferte ein musikalisches Zeugnis von Ausweglosigkeit und Verzweiflung, aber auch der Hoffnung und des Vertrauens auf Gott.

Im zweiten Abschnitt interpretierte Mariana Sadovska archaische ukraninische Klage-Gesänge. Dazu wurden die Namen verlesen. Mörtter ist schon lange in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Seit vielen Jahren bietet er Geflüchteten Kirchenasyl, um sie vor der Abschiebung zu schützen. Auch zu den Geflüchteten im Hotel Mado an der Moselstraße und der Willkommens-Initiative hat der Südstadt-Pfarrer engen Kontakt. In dem Hotel wohnen hauptsächlich Geflüchtete aus Eritrea. Einige von ihnen haben Mörtter die Namen ihrer ertrunkenen Verwandten und Freunde genannt. „Jeder im Hotel Mado kennt jemanden, der ertrunken ist. Es sind Cousins, Brüder und Schwestern, die heute in der Lutherkirche ihrer Angehörigen gedenken. Auch ein Vater ist dabei. Die Toten stammten aus Eritrea, dem Sudan und auch aus Guinea. Es gibt keinen Ort, an dem sie sonst trauen könnten“, sagt der Pfarrer.

„Die Nennung der Namen ist auch ein Schrei gegen das Unrecht, das im Mittelmeer geschieht, daher auch der Hiob mit seiner Klage nach dem ‚Warum‘. Nach massiver Klage versteht Hiob endlich, erkennt und spürt die unendliche Weite Gottes, die ihm neuen Atem gibt, indem er sich ihm überlässt.“ Damit verweist Mörtter noch einmal auf die biblische Geschichte, die dem Abend zugrunde lag. Mehr sei bei dem „Requiem für die ertrunkenen Angehörigen unserer Neu-Kölner Geflüchteten“ in der Lutherkirche nicht nötig. Trotz aller Wut, die der Pfarrer in sich spürt angesichts des würdelosen elenden Sterbens im Mittelmeer. „Dazu muss man nicht mehr sagen. Das ist ein unfassbarer Skandal an sich.“

Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann