„Bist du traurig, wenn man über die alten Zeiten spricht?“, wollte ein Schüler von Tamar Dreifuss wissen. Rund 50 Kinder saßen im Halbkreis um die Wahl-Kölnerin, die ihr kürzlich erschienenes Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“ auf ihrem Schoß hielt. Nicht irgendeine Geschichte erzählt sie in diesem Buch, sondern ihre Geschichte. Es ist ein Ausschnitt aus ihrer jüdischen Kindheit im litauischen Wilna, die mit drei Jahren abrupt endete. Ghetto, Zugtransport, Durchgangslager, Tod des Vaters – und der unglaubliche Mut ihrer Mutter Jetta, die floh, sich als Russin ausgab und sich und ihr Mädchen versteckte, auch in einer Hundehütte.
Erinnerung an die Zeit der Judenverfolgung lebendig halten
„Manche dachten, ich bin stumm“, erinnerte sich die heute 72-Jährige, die sich damals durch ihre Sprache nicht verraten durfte. Viele drängten sie, all das aufzuschreiben, und das hat sie in Kind gerechter Form nun getan, fußend auf den Erzählungen und Aufzeichnungen ihrer Mutter. „Das Schöne ist dabei, dass ich lebe“, erklärte sie dankbar den Schülerinnen und Schülern. Und nein, sie werde nicht traurig, wenn jemand über die Vergangenheit spreche. Sie selbst tut es immer und immer wieder, denn sie möchte, dass die Erinnerung an die Zeit der Judenverfolgung lebendig bleibt, um sie unwiederholbar zu machen.
„Ein Kind damals hatte null Chance zu überleben“
Dasselbe Anliegen hat der Arbeitskreis des Lern- und Gedenkorts Jawne am Erich-Klibansky-Platz im Kölner Zentrum. Daher hatte der Arbeitskreis anlässlich des Jahrestags der Novemberprogrome vom 9. auf den 10. November 1938, auch als Reichskristallnacht bekannt, zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen. Im Lern- und Gedenkort trafen sich Tamar Dreifuss, die vierte Klasse der Moritz-Arndt-Grundschule aus Rodenkirchen und Schüler der sechsten Klasse des Pulheimer Geschwister-Scholl-Gymnasiums. Die Seniorin, die 1959 von Israel nach Deutschland kam und hier als Erzieherin arbeitete, erzählte nicht nur aus ihrer Kindheit, sondern sie stellte auch jüdische Festtage und Symbole vor, stellte sich den Fragen der Kinder und sang jiddische Weisen mit ihnen. „Ein jüdisches Kind damals hatte null Chance zu überleben“, machte Dreifuss klar. „Dass ich überlebt habe, habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie sagte zu mir später: Ich hatte eine kleine Tochter und die wollte ich schützen.“
„Was haben die Nazis den Juden angetan!“
Wie wahr die Worte der 72-Jährigen waren, hatten die Kinder vor dem Treffen eindrücklich erfahren. In Gruppen waren sie ausgeschwärmt, um die Umgebung des Lern- und Gedenkorts Jawne zu erkunden. Anhand von Arbeitsaufträgen sollten sie sich mit diesem Standort auseinandersetzen, an dem sich früher ein Gymnasium, die Jawne, befunden hatte. Die Schüler waren sichtlich beeindruckt davon, dass hier 1.100 jüdische Kinder gelebt hatten und getötet worden waren. Kinder, deren Namen sich mahnend nun scheinbar endlos auf dem Löwenbrunnen aneinanderreihen. Mit Frottage-Technik nahmen die Schüler einige davon „mit“, ebenso die Inschriften der nahe gelegenen Stolpersteine, die an deportierte Juden erinnern, darunter Baby Jona, ausgelöscht mit zwei Jahren. Was der Löwe auf der Brunnenspitze wohl brüllen könnte? Für einen Gymnasiasten war das klar: „Was haben die Nazis den Juden angetan!“
Gedenken am Ort der Erinnerung
Nach dem Workshop versammelten sich alle Schüler mit Tamar Dreifuss am Löwenbrunnen zu einem festlichen Höhepunkt der Gedenkveranstaltung. Adrian Stellmacher, der die Federführung für den Jawne-Arbeitskreis übernommen hatte, wies auf die Bedeutung hin, „an einem besonderen historischen Ort zu lernen und zu forschen“. Die Aufmerksamkeit der Kinder zeigte, dass er Recht hatte, dass sich die Atmosphäre übertrug. Viele hoffen daher, dass die künftige finanzielle Absicherung des Lernorts sich positiv entwickeln möge. Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes unterstrich die Bedeutung des Orts und zugleich auch die solcher Veranstaltungen mit Kindern: „Es ist wichtig, euch an den Ort der Erinnerung zu holen.“ Zumal es Ausgrenzung auch in heutiger Zeit gebe. Aber Köln sei „eine friedliche Stadt, eine offene Stadt, eine Stadt der Toleranz“. Dies gelte für alle Menschen, „egal welcher Hautfarbe, welcher Kultur und welcher Religiosität“.
„Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“
.Zum Abschluss sprach die Kölner Künstlerin Ruth Fischer-Beglückter, die früher Jawne-Schülerin war und derzeit bis zum 19. Dezember 2010 ihre Bilder im Lern- und Gedenkort ausstellt, auf Hebräisch Psalm 79 am Brunnenrand – wie sie es an diesem Tag seit vielen Jahren tut: „Elohim…“ Die Worte begleiteten, übersetzt von Rainer Lemaire vom Jawne-Arbeitskreis, Schüler und Erwachsene in den Alltag, pointiert mit dessen Schlusswort: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“
Tipp: das Kinderbuch
Tamar Dreifuss: „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“, Hardcover, 34 Seiten mit großformatigen Illustrationen, ISBN 978-3-932248-13-9, 12,90 Euro
www.tamars-rettung.de
Hingehen! Lern- und Gedenkort Jawne
Erich-Klibansky-Platz, Albertusstraße 26, 50667 Köln
Info-Telefon 0151/ 25 18 49 88
Geöffnet: dienstags und donnerstags 11 bis 14 Uhr, sonntags 12 bis 16 Uhr, außerdem nach Vereinbarung, der Eintritt ist frei. Im Internet: www.jawne.de
Foto(s): Ute Glaser