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„Das Einzige, was wir nach Auschwitz tun können, ist die Verwundung aufzuzeigen und Mitfühlen zu ermöglichen“

Ein dramatisches Werk, eingebettet in eine nicht minder dramatische gesellschaftliche Realität, eine moderne künstlerische Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit: So kann man das musik-kulturelle ökumenische Großprojekt "Johannespassion | Judasprozess. J.S. Bach szenisch" auf eine Kurzformel bringen. Es enthält unter anderem Texte von Walter Jens und macht antisemitische Anteile in Bachs Werk sichtbar. Am 5., 6. und 7. März 2015 wird es in der evangelischen Trinitatiskirche in Köln aufgeführt.

Regie führt Eckhardt Kruse-Seiler. Es wirken unter anderem internationale Solisten, der Chor des Bach-Vereins Köln und das Ensemble Concerto Köln mit. Musikalischer Leiter ist Thomas Neuhoff. Ende Januar war bereits mehr als die Hälfte der Karten verkauft.

Die Trägerschaft betritt absolutes Neuland
Getragen wird das musik-kulturelle ökumenische Projekt vom Evangelischen Kirchenverband Köln und Region sowie vom Kölner Katholikenausschuss. Zu den Unterstützenden beziehungsweise Mit-Veranstaltenden gehören etwa der Diözesanrat der Katholiken im Erzbistum Köln, das Katholische Bildungswerk Köln, die evangelische Melanchthon-Akademie, das evangelische Schulreferat und das Zentrum für Alte Musik Köln. Mit dieser Trägerschaft betrete man Neuland, so Stadtsuperintendent Rolf Domning im Pressgespräch. Für ihn war das Projekt lange Zeit ein Abenteuer. Nun sei man an einen Punkt gekommen, „wo wir mit einem guten Gefühl dem Ereignis entgegensehen“. Es habe gegolten, „das maximal Wünschenswerte in Verbindung zu bringen mit den finanziellen Möglichkeiten“.

Projekt mit nicht-planbaren Herausforderungen
Hannelore Bartscherer spricht von einem „großartigen ökumenischen Projekt“. Vor zweieinhalb Jahren sei die Idee als Beitrag zur „Woche der Brüderlichkeit“ geboren worden, so die Vorsitzende des Katholikenausschusses in der Stadt Köln. Sie finde es erstaunlich, dass es gelungen sei, angesichts finanzieller und anderer, nicht planbarer Herausforderungen die Idee zu realisieren. „Das erfüllt uns mit großer Freude.“

Ausgrenzung, Antisemitismus und Gewalt
Judenfeindliche Passagen bei Bach, bittere Aktualität heute. Bartscherer und Domning betonen, dass den Beteiligten am Anfang die heutige brennende inhaltliche Aktualität nicht vor Augen stehen konnte, die Brisanz der Themen Ausgrenzung, Antisemitismus und Gewalt. Unabhängig von Pegida und Paris: Stadtsuperintendent Domning erklärt, dass die Kirche Zeichen setzt und Verantwortung übernimmt. Gerade auch in der Aufarbeitung antijudaistischer, antisemitischer Tendenzen.

Breakdance und Schauspiel kommen hinzu
Regisseur Eckhardt Kruse-Seiler wirkte schon als Vierjähriger in der Lübecker Marienkirche erstmals in einer Aufführung der Johannespassion mit. In seiner nun professionellen Annäherung an Bachs dramatischstes Werk geht es ihm darum, „das Ästhetische zu hinterfragen“ und neue Einsichten zu bieten. Denn in den Konzerthäusern dieser Welt drohe die 1724 in Leipzig uraufgeführte Johannespassion ästhetisch zu verkommen. Kruse-Seiler setzt Neues dagegen. Er bringt Breakdance und Schauspiel auf die Bühne. Wartet zudem mit einer von Diana Menestrey verantworteten Videoinstallation auf. „Die zusammenwirkende Installation ist eine visuelle, sich ungewöhnlich auflösende Projektion der zehn Choräle an die Rückwand der Kirche“, erläutert der Regisseur. „Es galt, die Schauspieler und Tänzer einzuarbeiten, ohne dass der Atem der Passion stockt“, nennt er eine der Herausforderungen der Verbindung von Musik, Schauspiel und Tanz. Dabei greife er auf die „Verteidigungsreden“ des Judas und Pilatus von Walter Jens zurück. Sie atmeten durch die Passion, setzten einen Kontrapunkt.

Latent antijudaistische Tendenzen sollen „an den Tag“ kommen
Es gebe kaum Werke, die so oft aufgeführt würden, wie Bachs Johannespassion, stellt Thomas Neuhoff fest. Der Leiter des Bach-Vereins Köln ist froh, dass der Ort der Aufführung nun eine Kirche ist. Dies sei ein angemessener Raum für die Synthese von Bach und der modernen Interpolation durch Jens. In manchen Aufführungen bleibe die Kernaussage hinter dem künstlerischen Ereignis zurück: „Aber wir wollen die unheimlichen, latent antijudaistischen Tendenzen in der Vertonung durch Bach an den Tag bringen. Nach Auschwitz kann man eine solche Musik nicht kommentarlos aufführen“, so der Dirigent. Bemerkenswert sei, dass drei der fünf Solistinnen und Solisten aus anderen Kulturkreisen stammten. So stammen der Bass Oded Reich, der den Jesus-Part singt, und die Sopranistin Dana Marbach aus Israel.

„Jens´ Text fordert zum Mitleiden mit Judas auf“
Eingebettet sind die Aufführungen in ein biblisch-theologisches Begleitprogramm. „Es setzt an den Brennpunkten der Inszenierung an“, erklärt Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie. Man stelle sich der Frage, wie es möglich ist, die Johannespassion heute aufzuführen. Laut dem evangelischen Theologen Peter von der Osten-Sacken „spielt man wohl in jedem Fall mit dem Feuer“. In der Passion sei Judas als Überlieferer zu sehen, so Bock. Seine Person bringe die Geschichte in Gang und ein ambivalentes Paket von Wirkungsgeschichte mit sich. „Von der biblischen Tradition und Rezeptionsweise her sind es verwundete Texte. Das Einzige, was wir nach Auschwitz machen können, ist diese Verwundung aufzuzeigen und eine Öffnung des Mitleidens zu ermöglichen. Jens´ Text fordert zum Mitleiden mit Judas auf“, konstatiert Bock. „Von Anfang an sind biblische Texte solche des Scheiterns. Wir sind ganz am Anfang, das aufzubrechen.“

Die „Verstocktheit“ der Juden in der Musik
Neuhoff erklärt, dass der Vorwurf des Antijudaismus in der Passion sich auch auf Bachs Musik selbst beziehe. So fänden sich Elemente, mit denen er etwa die „Verstocktheit“ der Juden formuliere. Die Passion müsse so aufgeführt werden, dass sie zum Nachdenken anrege, wohin Fanatismus führen könne. Keinesfalls dürfe die Inszenierung auf Provokation ausgerichtet sein, sondern auf Reflexion und Berühren.

Ruhige Erzählweise, „die unter die Haut geht“
In seiner Konzeption sieht Kruse-Seiler permanent Bezüge zur Gegenwart. „Aber ich werde sie in kein Bild bringen.“ Er habe den Wunsch, in der komplexen Geschichte, die eine ganz normale Johannespassion sein solle, alles zu einer Einheit zu führen. Mittels einer ruhigen Erzählweise, „die unter die Haut geht“. Ein wesentlicher Part fällt Schülerinnen und Schülern des Erzbischöflichen Irmgardis-Gymnasiums in Köln-Bayenthal zu. Sie übernehmen stumme Rollen. Stellvertretend für das Publikum werden sie auf die Bühne, in das Geschehen hineingeholt und wieder weggestoßen. Sie seien anwesend, sagten aber nichts, informiert der Regisseur. Den Schülern gehe es wie Judas, „der überall ´andocken´ will, aber zurückgestoßen wird“.

Der Mut, die Herausforderung anzunehmen
Für Thomas Höft, Geschäftsführer des „Zentrum(s) für Alte Musik Köln“, ist die „integrative Veranstaltung“ ein wichtiges Projekt. „Sie trauen sich was“, adressiert er an die Träger. Die antijudaistischen Tendenzen seien nicht wegzudiskutieren. Es zeuge von großem Mut, diese Herausforderung anzunehmen.

Kartenkauf noch möglich
Tickets zu 24 Euro (ermäßigt 18 Euro) können über KölnTicket (0221-28 01) und alle angeschlossenen Vorverkaufsstellen sowie über das Tickettelefon (0221-98 74 73 79) des Zentrums für Alte Musik erworben werden.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich