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Christoph Butterwegge und Ali Samadi Ahadi in der Melanchthon-Akademie

Ein Experiment zum Thema „Gerechtigkeit“ solle es werden. Mit diesen Worten begrüßte Dorothee Schaper die rund 70 Gäste am Jubiläums-Wochenende der Melanchthon-Akademie zur Veranstaltung „Forum – Marktplatz – Agora“.

Wechsel nach 45 Minuten
Ein erster Versuch war das Angebot hinsichtlich des Themas nicht. Denn verschiedene Facetten von Gerechtigkeit waren in der nun 50-jährigen Bildungseinrichtung des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region bereits Gegenstand des Austauschs. Neu hingegen war die Form. Es wurden zwei Gruppen gebildet, in denen „alle zu Wort kommen können“. In jeder Gruppe saßen je zwei Impulsgebende, die die Diskussion „befeuern“ sollten, „damit wir in sie hinein kommen und bleiben“, so Schaper. Eine der Besonderheiten: Nach 45 Minuten wechselten die Impulsgebenden in die jeweils andere Gruppe und damit erwartbar in einen anderen Diskussionsverlauf. So kamen in jeder Gruppe, mal mehr, mal weniger ausführlich, mindestens die vier Aspekte zur Sprache, denen sich die Impulsgebenden in ihrer Tätigkeit besonders widmen beziehungsweise gewidmet haben.

Globale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit
Den Filmemacher und Regisseur Ali Samadi Ahadi hatte man eingeladen, um zur Gerechtigkeit in einer Einwanderungsgesellschaft zu sprechen. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge arbeitet unter anderem über gerechte Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit. Claudia Brück, stellvertretende Geschäftführerin und Pressesprecherin von TransFair e.V., brachte sich in die Frage nach globaler Gerechtigkeit ein, die ehemalige WDR-Chefredakteurin Helga Kirchner zum Thema Geschlechtergerechtigkeit.

… und Verteilungsgerechtigkeit
„Fällt Ihnen spontan eine prägende Erfahrung von Ungerechtigkeit ein?“, fragte Schaper als Moderatorin der einen Gruppe zum Einstieg. Antworten blieben zunächst aus. „Dass niemand Ungerechtigkeit empfunden hat, kann ich gar nicht glauben“, staunte Christoph Butterwegge. Der renommierte Kölner Politikwissenschaftler lockte damit zumindest einen Gast aus der Reserve. Dieser empfand zuletzt Ungerechtigkeit, als er einen Bericht über eine US-Firma sah, die Mineralwasser zu einem profitablen Handelsgut macht, indem sie das Grundstück der Quelle in Kanada erwarb, um diese allein zu nutzen. „Das ist für mich eine Frage von Verteilungsgerechtigkeit“, auch hinsichtlich möglicher Folgen für Nachbarn etwa durch Senkung des Grundwasserspiegels.

Ungerechte Startchancen für junge Menschen
Eine Teilnehmerin merkte an, dass die Arbeitgeberin Kirche ein eigenes Vergütungssystem habe: Müsse sie nicht, wenn sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden wolle, allen das gleiche Geld zahlen. Dr. Martin Bock, Leiter der Melanchthon-Akademie, berichtete von seiner Tätigkeit 1998 als Pfarrer zur Anstellung in Köln-Bilderstöckchen, in der er seine erste Erfahrung in Köln mit Menschen gemacht habe, „die seit mehreren Jahren Arbeitslosigkeit da nicht mehr herauskommen“. Nach dem Wechsel auf eine andere Pfarrstelle in einem anderen Milieu hätten ihm die Gespräche mit den Betroffenen gefehlt. Superintendent Dr. Bernhard Seiger berichtete von einem Besuch in einem Slum und machte sich Gedanken über ungerechte Startchancen für junge Menschen dort und hierzulande. Eine Besucherin kritisierte am Beispiel der Erfahrungen ihrer Tochter, dass die „Generation Praktikum“ nicht gerecht behandelt werde. Ihre Tochter habe ein unbezahltes Praktikum in der Deutschen Botschaft in London absolviert. Wohlgemerkt unbezahlt. Noch nicht mal ein Taschengeld habe es gegeben. „Das geht nur dann, wenn die Eltern das finanzieren“, so die Mutter. Schließlich mache sich solch ein Praktikum im Lebenslauf vorteilhaft. „Aber was machen denn arme Familien, die kein Geld haben, ihre Kinder zu unterstützen.“ Ein aus Reutlingen stammender Gast nannte als Schwerpunkte seines Ungerechtigkeitsempfindens den Unterschied zwischen Jung und Alt, Kranken und Gesunden in unserer Gesellschaft, zwischen schlecht verdienenden Altenpflegern und gut entlohnten Metallfacharbeitern.

Leistungsgerechtigkeit im Vordergrund
Butterwegge kritisierte, dass statt notwendigerweise Bedarfsgerechtigkeit heute die Leistungsgerechtigkeit in den Vordergrund gerückt sei. Beispielsweise werde die Leistung der Banken für wertvoller gehalten, als die von Erzieherinnen. Soziale Gerechtigkeit, die sich dadurch ausdrücke, dass der Staat nur noch denjenigen helfe, „die etwas für ihn tun“, sei anzuprangern. „Es wird nicht danach gefragt, was braucht jemand.“ Darauf weise auch die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ hin, in der man Verteilungsgerechtigkeit durch Teilhabegerechtigkeit ersetzt habe. „Wir müssen dafür sorgen, dass das Kind Teilhabe hat an Bildung, der Erwachsene an der Arbeitswelt.“ Die Teilhabe an Kultur sei immer mehr an Geld gebunden, bedauerte Butterwegge. „Das Geld ist so ungerecht verteilt wie noch nie.“ Gerade heute sei es wichtig, auch für die Kirchen, die Finger in die Wunde zu legen und mehr Wert auf Verteilungsgerechtigkeit zu legen.

„Und wo ist der Mittelstand?“
„Woran liegt es denn, dass nicht mehr Menschen gegen Ungerechtigkeit aufstehen“, fragte Schaper. Eine Besucherin stellte fest, dass unglaublich viel beschwichtigt werde. Von der Politik, von Medien. Die Arbeitslosenzahlen seien doch gesunken. Es gebe doch Hartz IV. Wir sollten zufrieden sein, anderen gehe es noch schlechter. Wenn aber Menschen sich ihrer Würde beraubt sähen, könnten sie nicht mehr die Kraft aufbringen, sich zu wehren. Die Antwort Umverteilung empfand eine andere Besucherin als zu simpel. Die Lösung müsste so ausfallen, dass die Reichen etwas davon hätten. „Und wo ist der Mittelstand“, fragte sie. Möglicherweise habe sich bei vielen festgesetzt: „Weil wir nichts leisten, sind wir arm“, so ein männlicher Gast. Man traue sich nicht, sich zu beklagen. Man befürchte, dann noch mehr „unter die Knute“ genommen zu werden.

Maßstäbe setzen im eigenen Kulturkreis
„Viele, die es bei uns nicht auf die Sonnenseite des Lebens verschlagen hat, geht es besser als vielen anderen in Entwicklungsländern“, meinte Brück. Zur Verbesserung ihrer Lebenssituation müsse es andere Mechanismen geben, hofft sie, dass unsere Gesellschaft die Augen öffne. „Geht es uns wirklich so schlecht?“, fragte sie. „Ich persönlich muss nicht warten auf eine politische Reaktion, sondern kann täglich kleine Schritte machen“ hin zu einer globalen Gerechtigkeit. „Eine Tafel Schokolade für 39 Cent, das geht nicht. Irgendwer hat das bezahlt.“ Diese Frage müsste lauter gestellt werden an Konzerne. „Ich frage, ich bin laut, es ist einfacher, sich für andere einzusetzen.“ Eine Frau reagierte prompt: „Hier werden zwei Elemente miteinander vermengt. Mit welchem Maßstab will ich Teilhabe messen. Es ist wichtig, dass wir uns eben nicht mit diesen Ländern vergleichen. Wir müssen Maßstäbe haben in unserem Kulturkreis. Das eine mit dem anderen zusammenzubringen halte ich für fatal.“ Dieser Vergleich sei nicht hilfreich. Brück erwiderte, es gehe ihr nicht um einen Vergleich, vielmehr wolle sie die Augen öffnen für Zustände und Entwicklungen in anderen Teilen unserer gemeinsamen Erde. Ein männlicher Teilnehmer meinte, einen Zusammenhang zwischen globaler, staatlicher und einzelner Gerechtigkeit zu sehen. Derselbe Mechanismus, der hier funktioniere, könne auch woanders greifen. Man könne voneinander lernen, was tatsächlich passiere.

„Wir dürfen uns nicht beruhigen“
Wir dürften die beiden Armutsqualitäten nicht gegeneinander stellen, warnte Butterwegge. Es sei gefährlich, wenn die Kluft hier nicht geschlossen werde. „Wir müssen vor Ort anfangen, aber die andere immer im Kopf behalten.“ Absolute und relative Armut – aus sozialen Gerechtigkeitsüberlegungen seien beide zu bekämpfen. „In dem Moment, wo ich mich auf solche Vergleiche einlasse, habe ich mich durch die Medien aufs Glatteis führen lassen. Wir dürfen uns nicht beruhigen, noch beunruhigen lassen.“ Wenn man einen Hartz-IV-Empfänger mit einem Armen in einem Entwicklungsland vergleiche, könne man unterstellen, er klage auf hohem Niveau. Das treffe nicht zu. Ebenso wenig sei die Armut in fernen Ländern „weit weg, damit habe ich nichts zu tun“. Tatsächlich hänge beides strukturell zusammen, beides dürfe nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Ich denke, dass es Ungerechtigkeit gibt, weil Menschen ungleich geboren werden“, sagte ein weiterer Teilnehmer, und fragte, ob es so etwas wie Schicksalsgerechtigkeit gebe. „Aber wo man hineingeboren wird, darauf hat der Mensch keinen Einfluss.“ Und: „Gibt es Gerechtigkeiten, die wichtiger sind als andere?“

Viele Wortmeldungen, viele Meinungen
Nicht jeder Beitrag wurde kommentiert. Während die einen in der Runde auf die Äußerungen ihrer Vorredner eingingen, wurden diese von anderen mit einem Richtungswechsel „ignoriert“. Tatsächlich ging die Gesprächslinie, wie auch Superintendent Bernhard Seiger als Gast im Verlauf des Nachmittags zutreffend erkannt und stellvertretend formuliert hatte, „hin und her“. Wie andere zuvor, schlug er daher vor, die Bezugsgröße für Gerechtigkeit zu klären. Gehe es um die eigene, die globale? Welche Rolle falle in diesen Fragen der Politik zu, welche dem Individuum? Seiger wies auch auf die Gerechtigkeit in Gott hin, die eng mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft sei.

Beiträge folgen nun rasch aufeinander
Im Verlauf des ersten, spätestens im zweiten Durchgang, zu dem Butterwegge und Brück mit Ahadi und Kirchner die Gruppen tauschten, waren die Teilnehmenden so weit „aufgewärmt“, dass nicht mehr Zurückhaltung dominierte, sondern die Beiträge rasch aufeinander folgten. Die pensionierte WDR-Chefredakteurin Helga Kirchner nannte als ihre Referenzgrößen für Gerechtigkeit das Grundgesetz, das Gleichheits- und Freiheitspostulat. „Auf diese müssen wir uns berufen.“ Regisseur Ali Samadi Ahadi glaubt, dass die deutsche Gesellschaft extrem im Wandel sei. Die Emigranten in Deutschland hätten den Weg vor sich, den einst die Frauen vor langer Zeit hin zu einer Gleichberechtigung begonnen hätten. Den von Kirchner festgestellten Grundlagen wolle er zwingend die Menschenrechte hinzufügen. Er fragte, „was tun wir, was tue ich“, wenn dagegen verstoßen werde. Wie sei jeder einzelne beteiligt, wie lebe man tagtäglich diese Gerechtigkeit. Gerade auch angesichts von Gräueln, wie etwa die einstige Bombardierung eines iranischen Dorfes durch den Irak mit chemischen Waffen, die ein deutscher (unbehelligt gebliebener) Industrieller geliefert hatte …

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich