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Christen als Magnetmodell: pointierte Predigt über das „einander“ der Jahreslosung

Die kleine alte Bensberger Kirche lässt sich leicht übersehen, liegt sie doch fast außerhalb des Blickwinkels oberhalb eines Friedhofswegs auf der Höhe. Doch im Januar geriet sie plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit: beim Neujahrsempfang der evangelischen Kirchen und diakonischen Einrichtungen von Bergisch Gladbach.

Bei dieser von Jahr zu Jahr durch die Gemeinden tourenden Veranstaltung waren dieses Mal die Pfarrer der Stadtteile von Herkenrath, Bensberg und Refrath Gastgeber: Wolfgang Graf, Jörg Schmidt, Birgit und Robert Dwornicki, die für den liturgischen Rahmen des Festgottesdienstes sorgten, zu dem der Posaunenchor Herkenrath und Organist Johannes Lange auf der Empore aufspielten. Was die Besucher jedoch am meisten in Bann schlug, war der Vortrag des Gastpredigers, Kirchenrat Dr. Volker A. Lehnert. „Exegese vom Feinsten“, zollte ein Theologe Respekt.

Biblische Worttreue und lebendige Sprechweise
Lehnert verstand es virtuos, biblische Worttreue, theologische Auslegung, christliche Intention und lebendige Sprechweise zu einem mitreißenden Ganzen zu verbinden. Gekommen war er, um die Jahreslosung 2015 auszulegen: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ (Röm. 15,7). Mit Sänger Klaus Lage könne man sagen „1.000 Mal gehört, 1.000 Mal ist nichts passiert“, kommentierte Lehnert – und bewies so gleich zu Anfang, dass er das Thema nicht nur sachlich-nüchtern aufbereiten würde. Der Theologe aus dem Landeskirchenamt in Düsseldorf hat ein Talent für Bilder aus dem Alltag und pointiert-witzigen, gestenreichen Erzählstil.

„Einander in Liebe ertragen“
Der Kirchenrat kam schnell zum springenden Punkt seiner Gedanken über die Losung: „Hier gibt es ein Wort, über das gibt es keinen Artikel.“ Fehlanzeige in theologischen Büchern, nur bei dem Theologen Gerhard Lohfink habe er dazu einige Gedanken gefunden. Doch trotzdem sei dieses Wörtchen neben „Liebe“ das „Hauptwort der christlichen Ethik“. Kunstpause. Gespannt blickten die Zuhörer im Kirchenschiff – und Lehnert verriet, welches Wort er meinte: „einander“. Er habe nachgeschlagen, wo es in der Bibel auftaucht, und gab einige Belege von Röm. 12,10 über 1. Kor. 11 und Gal. 5 bis Eph. 4. Mal heiße es „einander verzeihen“ oder „einander in Demut begegnen“, mal „einander trösten“. Auch „einander in Liebe ertragen“ kommt vor – „das sage ich nur ganz leise“, merkte Lehnert an.

„Ein sozial-revolutionäres Programm“
Dass „einander“ auch das „füreinander“ und „miteinander“ einschließe, sei ein Hauptmerkmal der Christen, erklärte Lehnert. Daran ließe sich erkennen, „dass unter uns Gottes Geist wirksam ist“. Zur Römerzeit hätten die Christen mit dieser Haltung eine „Kontrastgesellschaft“ dargestellt, und aus dieser Haltung hätten sie „ihre missionarische Strahlkraft“ und „ihren Magnetismus“ gewonnen. Das habe gewirkt und überzeugt. „Nicht die Trinitätslehre“ habe immer mehr Menschen fürs Christentum begeistert, sondern „das Angetrillert-Sein durch einen neuen Lebensstil“, betonte Lehnert. Kirche sei als Alternative zur bestehenden Gesellschaft empfunden worden, dass auch Sklaven freie Tage zugestanden wurden, sei revolutionär gewesen. Diese „Praxis des Einander“ sei ein „sozial-revolutionäres Programm“ gewesen.

Als Jude für Nichtjuden geschrieben
Warum heißt es in der Jahreslosung „euch angenommen“ statt „uns angeommen“? Paulus habe als Jude für Nichtjuden geschrieben, also habe er sich in der Kontinuität der Verheißung Israels verstanden, während die Heiden mit dem Gott Israels nichts zu tun hatten. Doch wie hat Christus „uns“, die Juden, angenommen? Lehnerts Antwort: „Er hat alle aufgenommen in den Bund mit Israel.“ Vor allem aber zeige dieser Bibelsatz: „Wie Gott mir, so ich dir.“ Pause. Lehnert wartete, ließ die Botschaft sacken. Damit sei, erklärte er dann, das derzeitige Leben „als Trainingslager für die liebevolle Auferstehung“ zu verstehen. Und für diese Haltung gegenüber dem Nächsten gelte: „Man müsste es uns abspüren.“ Dann, so ist sich Lehnert sicher, hätten die Kirchen auch heute enormen Zulauf.

Die Praxis des „Einander“
Wie könnte diese Praxis des Einander im Alltag konkret aussehen? Lehnert nannte Beispiele: „Ich werde für andere sorgen.“ „Ich werde helfen, andere Lasten mit zu tragen.“ „Ich werde andere in Liebe ertragen – auch meine Primärbeziehung, auch meinen Pfarrer …“ Und schmunzelnd setzte er hinzu: „… hoffentlich auch die Leute vom Landeskirchenamt.“ Dann spitzte er seine Worte nochmals zu: „Ich – das sind natürlich Sie!“ Eindringlich fasste der Theologe sodann zusammen: „Wenn wir das täten, wären wir ein Magnetmodell.“

Nicht auf die Defizite schauen
Um noch plastischer zu machen, was die Jahreslosung meine, gab Lehnert seinem Publikum eine „3-D-Brille für die Praxis des Miteinanders und die Praxis der gegenseitigen Wertschätzung“ an die Hand: die Geschichte von Nathanael (Joh. 1). Diesen moppernden Mann habe Jesus bezeichnet als einen „wahren Israeli, an dem kein Falsch ist“. Denn Jesus habe Nathanael schon zu Beginn als den gesehen, der er sein sollte. „Nicht auf die Defizite, sondern auf die eigentliche Vollendung“ habe Jesus geschaut. Genau dadurch gewann er ihn. Dies vor Augen habend sollten wir alle Menschen „als die, die wir in Gottes Augen sind“, betrachten, forderte Lehnert. Es gehe um das „Potenzial der gegenseitigen Wertschätzung“. Für Lehnert steht fest: „Es wäre der effektivste Gottesdienst, den wir halten können, und wir würden viele Menschen gewinnen, dessen bin ich gewiss.“


„Gerade jetzt gemeinsam!“
Manche hätten sich von dem Kirchenrat noch einen Ausflug in die aktuelle gesellschaftlich-politische Lage gewünscht. Doch zumindest Andrea Vogel, Superintendentin des Kirchenkreises Köln-Rechtsrheinisch, schlug einen kleinen Bogen in diese Richtung, als sie abschließend zu Grußwort und Segen an den Altar trat. Gerade von der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland kommend, präsentierte sie das gemeinsame Wort „Gerade jetzt gemeinsam!“ Dieses Wort sollten die Gemeinden „vor dem, was geschehen ist und noch geschehen mag“, bekannt machen. Sie spielte auf die Anschläge in Paris und auf fremdenfeindliche Attacken der letzten Wochen an. Damit verband sie zugleich einen „herzlichen Dank“ an alle Gemeinden, die derzeit in der Flüchtlingsarbeit und bei der „Hebung von Schätzen“ aktiv seien.


„Die Schöpfung und der Schöpfer“
Andrea Vogel und Volker Lehnert genossen anschließend mit den übrigen Gästen den geselligen Teil des Neujahrsempfangs im Bensberger Gemeindehaus bei Getränken und Häppchen. Manche fragten sich, wann sie wieder mal das Vergnügen haben könnten, dem in Neuss wohnenden Mann aus dem Düsseldorfer Landeskirchenamt im Rechtsrheinischen zuzuhören. Möglich wäre das im März 2015: Beim Theologischen Frühjahrsseminar der Andreaskirche in Bergisch Gladbach-Schildgen, Voiswinkeler Straße 40, ist Volker Lehnert der Referent am Mittwoch, 4. März, um 20 Uhr. Es geht um „Die Schöpfung und der Schöpfer“.

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser