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Buchvorstellung: „Köln in preußischer Zeit“

Ein Lexikon von 1865 bezeichnet Köln als „erste Handels- und fabrikreichste Stadt des westlichen Theils der preußischen Monarchie“. Zu diesem Zeitpunkt war genau ein halbes Jahrhundert vergangen, seit man auf dem Wiener Kongress 1815 dem Königreich Preußen zusätzlich große Gebiete im Westen (Westfalen und die Rheinlande) zugeschlagen hatte – eingeschlossen Köln.

Selbstbestimmte Organisation der Gesellschaft
Die ehemals freie Reichsstadt stand von 1794 bis 1814 unter französischer Herrschaft. So relativ kurz diese Periode gewesen sein mag – sie bildete den eigentlichen Impuls für den Aufbruch Kölns in die Moderne. Ihr französisches „Vermächtnis“ setzte die Rheinmetropole auch gegen die Regulierungsansprüche des preußischen Obrigkeitsstaates und seine Verwaltung. Ein Erbe, das Gleichheit als Schutzschild der Freiheit betrachtete. Entsprechend verteidigte Köln etwa die fortschrittlichen französischen Rechtsreformen. Man forderte am Rhein, dass die Rechtsgleichheit jetzt auch ökonomisch gelten, die Gewerbefreiheit fortgeführt werden müsse. Man trat ein für eine freie Wirtschaft und wesentlich eine selbstbestimmte Organisation der Gesellschaft.

Wie sieht Köln Berlin und umgekehrt?
Jürgen Herres beleuchtet beide Seiten der rheinisch-preußischen Beziehungsgeschichte. Der Autor nimmt an, dass erstmals der Schriftsteller Levin Schücking in einer Zeitungskorrespondenz in den 1840er Jahren von einer „rheinisch-preußischen Vernunftehe“ gesprochen habe. „Und dieser Begriff“ so Herres, „charakterisiert die durch ein komplexes Wechselverhältnis von Kooperation und Konfrontation bestimmte Beziehungsgeschichte zwischen Preußen und Rheinländern am ehesten.“
Der Historiker schildert aus unterschiedlichen Perspektiven, widmet sich nicht nur der Realgeschichte, sondern auch der Wahrnehmungsgeschichte: Wie sieht Köln Berlin und umgekehrt? Beispielsweise galten den einen die anderen als „Litauer“, während die anderen in den Rheinländern „Halbfranzosen“ sahen, die es zu germanisieren und zum Preußentum zu bekehren gelte.

9. Band der „Geschichte der Stadt Köln“
Herres, profunder Kenner der Geschichte des Rheinlandes und der Domstadt, zeichnet auf anschauliche Weise die Entwicklung Kölns als preußische Stadt nach. Dabei hält er sich nicht strikt an den vorgegebenen zeitlichen Abschnitt 1815 bis 1871. Sein über 500 Seiten starkes und mit ausgewählten Illustrationen versehenes Werk stellt den 9. Band innerhalb der „Geschichte der Stadt Köln“ dar. Inklusive diesem liegen im Greven Verlag jetzt fünf des auf 13. Bände angelegten Gesamtwerkes vor. Herausgeberin ist die Historische Gesellschaft Köln.

Durch Originalquellen belegt
Dem Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gelingt eine herausragende Studie über die sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Verhältnisse im damaligen Köln. Zugrunde liegt ihr ein besonders umfangreiches Quellenstudium, darunter Korrespondenzberichte aus Köln in deutschen Zeitungen. Herres informiert über den alle Bereiche betreffenden Wandel – die Modernisierung Kölns. Beispielsweise behandelt er die Auswirkungen der Industrialisierung. Ebenso blickt er auf die Bildung des Wirtschafts- und Finanzzentrums Köln, dessen heutige Größe in dieser Zeit wurzelt. Der Redakteur der Marx-Engels-Gesamtausgabe beleuchtet die Entwicklung eines demokratischen Bewussteins, das Streben der Kölner nach Verfassungsstaatlichkeit. Er benennt die unterschiedlichen Mentalitäten in Altpreußen und den westlichen Provinzen, wo sich ein „selbstbewusster rheinischer Regionalismus“ entwickelte.

Mehrheit der Einwohner religiös gepägt
Im Kapitel „kulturelles und religiöses Leben“ widmet sich Herres auch der Religiosität und „Konfessionalisierung“. Während Preußens Westen katholisch geprägt, Köln der Mittelpunkt eines Erzbistums und ein Zentrum des deutschen Katholizismus war, besaß Altpreußen mit Berlin eine protestantische Tradition, weist der Autor auf einen besonderen Aspekt der „Spaltung“ hin. Laut Herres war im 19. Jahrhundert die überwiegende Mehrheit der Einwohner religiös geprägt, „evangelische genauso wie katholische und jüdische“. Es sei sogar davon auszugehen, „dass sich ihre religiösen Überzeugungen, konfessionellen Identitäten und kirchlichen Bindungen“ noch stärker gefestigt hätten. „Aber bis 1870 ist die regionale Identifikation, der städtische Zusammenhalt, stärker als das Konfessionelle.“

Erfahrung der Toleranz
Konfessionsunterschiede scheinen eine geringe Rolle gespielt zu haben“, stellt Herres fest. Obwohl er kein spannungsfreies „Zusammenleben der Bekenntnisse und Religionsgemeinschaften“ sieht, hätten sich gewaltsame Auseinandersetzungen nicht gegen Angehörige der evangelischen Gemeinde gerichtet. Selbst nicht während der „Kölner Wirren“ 1837. Sechs Monate, bevor der Konflikt zwischen katholischer Kirche und Staat in den preußischen Westprovinzen mit der Verhaftung des Kölner Erzbischofs seinen Höhepunkt erreichen sollte, habe der protestantische Bankier Carl Eduard Schnitzler betont, dass er „seitens der Katholiken nur die Erfahrung der Toleranz gemacht habe. In Stadtrat, Handelskammer oder Vereinen sei nie die Rede von Religionsunterschieden gewesen.“ Erst mit dem Kölner Kirchenstreit habe sich auf katholischer wie evangelischer Seite das konfessionelle Selbstbewusstsein verstärkt. „Konfessionelle Gegensätze wurden eine allgegenwärtige soziale Tatsache.“

Protestanten sind „priviligierte Minderheit“
Der Aspekt einer Diasporagemeinde habe in der jüdischen wie evangelischen Gemeinde „zur Intensivierung und Festigung der konfessionellen Identität“ beigetragen. Die Protestanten bezeichnet Herres „in gewisser Weise (als) eine ‚privilegierte‘ Minderheit“. Ihre Mitglieder hätten über eine erhebliche Wirtschaftskraft verfügt. Obendrein demselben Bekenntnis angehört wie Herrscherhaus und Staatsspitze. Gleichwohl verneint Herres eine „Hörigkeit“ der Kölner Protestanten gegenüber Altpreußen. Zwar habe sich kein Widerstand geregt gegen den 1817 von Friedrich Wilhelm III. erlassenen Aufruf zur Vereinigung der lutherischen und reformierten Gemeinden zu einer evangelischen Union. „Aber der Konflikt brach aus, als der König auch die Rechte der bisherigen, presbyterial-synodal ausgerichteten Kirchenverfassungen beseitigen wollte.“

Entscheidung gegen das Kirchenregiment
So habe „die Mülheimer Kreissynode, zu der auch Köln gehörte, auf ihrer ersten Versammlung 1817“ sich gegen das Kirchenregiment des Landesherrn ausgesprochen und auf die selbstständige Verwaltung der inneren Angelegenheiten von Gemeinden gepocht. „Dem Staat sollte lediglich das Recht zustehen, die Aufsicht über das äußere Kirchenwesen zu führen.“ Ein 1835 geschlossener Kompromiss habe „das landesherrliche Kirchenregiment auch in der Rheinprovinz und in Westfalen“ eingeführt, „die Gemeinden erhielten das Recht zur Wahl ihrer Geistlichen, das die Regierung jedoch auch in Köln immer wieder zu durchbrechen versuchte“. Gleichwohl habe die evangelische Gemeinde auch aufgrund der Tatsache, dass ihr „wichtige Kaufleute und Fabrikanten“ angehörten, „ihre Interessen gegenüber Staat und Kommune mit Nachdruck und Selbstbewusstsein zu vertreten“ gewusst.

Eröffnung evangelischer Schulen
Herres spricht von „dichten Netzwerke(n) von religiösen und karitativen Einrichtungen und Vereinen“, die alle Religionsgemeinschaften entwickelt hätten. Karitative und kirchliche Einrichtungen hätten umfangreiche Schenkungen und Vermächtnisse erhalten. Beispielsweise habe Wilhelmine Joest, Witwe des größten Kölner Zuckfabrikanten Carl Joest, mit einer großen Einzelstiftung dem Clara-Elisen-Stift seit 1870 zur „Versorgung ‚altersschwacher, hülfloser und unheilbarer kranker Glieder‘ der evangelischen Gemeinde“ verholfen. Eine „professionelle Konfessionalisierung“ auch auf evangelischer Seite habe neben dem Kranken- und Armenwesen das Vereins- und Elementarschulwesen erfahren. „In den 1840er Jahren“, so Herres, „war der Andrang zur evangelischen Elementarschule so groß, dass 1845 und 1852 weitere evangelische Schulen eröffnet werden konnten.“

Neue Chancen für den Mittelstand
Nicht zuletzt geht Herres auf die räumliche Verdichtung Kölns ein. „Der Stadtraum unterlag bis zur Reichseinigung großen Veränderungen“, so Herres. Dieser auf die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts datierte Wandel muss so gravierend ausgefallen sein, dass 1865 der Schriftsteller Wolfgang Müller von Königswinter den Protagonisten seiner Erzählung „Der Domschüler“ zwischen einem „heutigen“ und „frühern“ Heimatort unterscheiden lässt. „Moderne Häuser (…) gradlinige Straßen im frischesten Stile“ hätten „dunkle, krausgewundene Gassen mit ihren spitzen, abenteuerlichen“ abgelöst. Als Voraussetzungen für diese tief greifende Umgestaltung und Erneuerung nennt Herres „die ungeheure Vermögens- und Besitzumschichtung infolge der Säkularisation von 1802“ in der Zeit der französischen Herrschaft. Die Einziehung und Privatisierung des kirchlichen Grundbesitzes habe den großbürgerlichen und sogar den mittelständischen und kleingewerblichen Bevölkerungsschichten neue Chancen eröffnet.

Jürgen Herres: Köln in preußischer Zeit. 1815-1871, 504 Seiten mit 125 s/w- und farbigen Abbildungen und einem eingelegten Plan von Köln und Deutz, Greven Verlag, Köln, Normalausgabe 60 Euro, Vorzugsausgabe (Halbleder im Schuber) 105 Euro.

Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich