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Bettina Tietjen über die Demenz ihres Vaters

Demenz – ein Wort, das Betroffenheit, mitfühlendes Kopfnicken und oft aus Unsicherheit einen schnellen Wechsel zu anderen Gesprächsthemen auslöst. Umso überraschender war, dass im Altenberger Dom durchaus herzhaft gelacht wurde, als das Thema zur Sprache kam. Und das lag an Bettina Tietjen. Die bekannte Fernsehmoderatorin las aus ihrem Buch „Unter Tränen gelacht. Mein Vater, die Demenz und ich“.

Dabei präsentierte die Autorin nicht nur ihre Erfahrungen mit der Demenz ihres Vaters, sondern auch die Krankheit selbst so frisch und gutgelaunt, dass sich die Schwere der Erkrankung aufzulösen schien. Ein Zug Heiterkeit wehte an diesem Sonntagnachmittag durch den Dom, wenngleich das Lachen bisweilen im Halse steckenblieb.

Ein bergisches Mädchen
„Da kriegt man ja direkt Ehrfurcht“, zollte Bettina Tietjen dem gotischen Gotteshaus als Lese-Ort Respekt und gestand: „Das ist für mich ein besonderes Erlebnis.“ Dabei ist die Hamburgerin gar nicht so weit entfernt aufgewachsen: in Wuppertal. „Ein echtes bergisches Mädchen“, betonte Pfarrerin Claudia Posche, die durch ihr Nachfragen die Lesung zum Talk erweiterte und Bettina Tietjen auch über das Buch hinausgehende Statements entlockte.

Ganz persönliche Darstellung von Demenz
Die Lesung fand im Rahmen der Reihe „500plus“ statt, die die Altenberger Gemeinde anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums veranstaltet. Zwar erfuhren die zahlreich erschienenen Zuhörer nicht, wo der Bezug zur Reformation lag, doch umso mehr erfuhren sie über die Licht- und Schattenseiten des Alltags mit einem dementen Familienangehörigen. Natürlich ging es nicht um Allgemeingültiges oder gar Ratschläge, vielmehr punktete Bettina Tietjen durch ihre ganz persönliche Darstellung des Umgangs mit ihrem Vater, mit kleinen Beobachtungen und widersprüchlichen Empfindungen.

Neubeginn im Pflegeheim
Zwei Jahre und sieben Monate hat die 57-Jährige ihren Vater durch sein dementes Lebensende begleitet, täglich ihn im nahen Pflegeheim besucht. Wie es dazu kam, dass sie ihn von Wuppertal von heute auf morgen nach Hamburg „mitnahm“, liest sich gleich zu Anfang ihres Buchs fast wie ein Krimi: Die Polizei rief Tietjen an, weil der 86-Jährige spätabends in der Nachbarschaft geklingelt hatte: Er wolle ins Bett gebracht werden. Doch aus seinem Reihenhaus hatte er sich ausgesperrt, seine lettische Betreuerin reagierte nicht, und als man durchs Fenster spähte, sah man nur ihre Beine hinterm Sofa hervorlugen. Der vermeintliche Tatort wurde abgesperrt, bis klar war, dass die Lettin sich mit Brandy abgefüllt hatte. Das war der Moment, wo der Wechsel des Seniors ins Pflegeheim beschlossen wurde.

Kothaufen und Splitternackte
„Mein Leben hat sich total geändert“, gestand die Moderatorin. Heute denke sie manchmal, wie sie das alles bewältigt habe. „Aber man hat viel mehr Kapazitäten, als man denkt. Wenn es sein muss, muss es eben sein.“ Sie lernte, dass vor allem das „Thema untenrum“ bestimmend bei Demenz sei. Sie erfuhr, dass Schamgefühle verschwinden, Kothaufen im Schrank oder Begegnungen mit Splitternackten durchaus eine Normalität sind – und der Windelkauf einem nur am Anfang peinlich ist. Der Umgang mit all dem habe ihren Blick auf das Personal geschärft und „meinen Respekt vor dieser Arbeit ins Unermessliche gesteigert“. Da gab’s im Dom spontanen Applaus!

„Da geht am Ende auch die Liebe flöten“
Den Vater ins Heim einquartieren – „am Anfang ist mir das schon sehr schwer gefallen“, räumte Bettina Tietjen ein. Sie sei zwiegespalten gewesen zwischen den Gefühlen der Entlastung und des Abschiebens. Doch heute sei für sie klar: besser ein gutes Heim in der Nähe als der Drang alles selbst machen zu wollen – bis zur Überbelastung. „Das ist für meine Begriffe total falsch.“ Denn die Routinearbeiten wie Windeln wechseln, abwaschen und anziehen helfen kosteten viel Kraft und kämen zum normalen Familienalltag hinzu. „Viele verlieren dann die Empathie für den Dementen. Und da geht am Ende auch die Liebe flöten.“

„Das Fröhliche kam erst in der Demenz raus“
Bei ihr war das Gegenteil der Fall. Sie sei dankbar, dass sie durch die Demenz ihren früher so kontrollierten Vater noch einmal neu habe kennenlernen dürfen: „Das Fröhliche, das Emotionale, das Weiche ist erst in seiner Demenz rausgekommen.“ Die Moderatorin plädiert daher dafür, den Pflichtteil dem Fachpersonal zu überlassen und nur den „Spaßteil“ mit dem Dementen zu genießen.

Spaß mit Fotos, Gedichten und Witzen
Sie habe mit ihrem Vater Fotos angeguckt, sei laut singend mit ihm durch den Park spaziert, habe über seine Witze gelacht und über seine Zeichnungen, die teils im Buch verewigt sind, gestaunt. Auch Gedichte, wie das von Morgenstern über die Möwen, habe sie nun wieder frisch im Gedächtnis – und rezitierte es sogleich. Gefallen habe ihr auch, dass im Heim so viel gefeiert wurde, von Tanztee bis Halloween. „Ich habe mich da wohlgefühlt, ich habe vielleicht auch ein kindliches Gemüt“, verriet Bettina Tietjen, die deshalb von ihrem Gatten schon mal aufgezogen wurde mit „Nimm dir doch gleich auch ein Zimmer da, wenn es da so schön ist.“ Nun ja, bei den vielen Heiratsanträgen, den ein Dementer ihr machte …!

„Ich finde, dass Gottvertrauen immer hilft
„Hat dich dein Gottvertrauen gestärkt?“, wollte Pfarrerin Claudia Posche von der Moderatorin wissen, die durch die Zugehörigkeit zu einer Freikirche geprägt wurde und die Bibel fast auswendig kennt. „Ich finde, dass Gottvertrauen auf jeden Fall immer hilft“, so Bettina Tietjen. Es sei „ein ungeheurer Halt“ zu wissen, dass es nach dem Tod weitergehe, und es sei schön, wenn man „einfach zusammensitzt und betet oder singt“. Kirchenlieder seien für sie und den Vater eine Quelle der Freude gewesen. „Ich habe richtig gern mit ihm diese Lieder geschmettert. Er konnte durchaus 13 Strophen auswendig."

Gesang mit Orgel und Saxophon
Eine Ahnung erhielt das Publikum davon, als es mit der Moderatorin schallend „Geh aus mein Herz und suche Freud“ sang – begleitet von Domorganist Andreas Meisner an der Orgel und Johannes Ludwig am Saxophon. Die beiden hatten den Nachmittag hochkarätig gestaltet mit Musik von den Beatles bis Gershwins „Summertime“.

Antependium und Ausstellung – ohne Tietjen
Wer nach einer Spende in den Klingelbeutel darauf wartete, sein Tietjen-Buch signieren zu lassen, konnte erfahren, dass am selben Tag bereits das neue Antependium (Vorhang am Altar) im Dom vorgestellt und die Wanderausstellung „500 Jahre Reformation in Köln und Region“ im Martin-Luther-Haus eröffnet worden war. Reformation und Demenz – zwei ernste Themen, denen Bettina Tietjens Lesung eine fröhliche Leichtigkeit einhauchte.

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser