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„Bei uns war es Kristall-Tag“

Henny Franks mustert mit ihren 90-jährigen, überaus wachen Augen, das überdimensionale alte Familienfoto, das der Beamer im Haus der Evangelischen Kirche in den Raum wirft: Das Bild zeigt ihre Eltern und beiden Geschwister im Februar 1939, rechts außen sie selbst, die damals noch Henriette Grünbaum hieß.

Die letzten zwei Stunden
Die fünf Gesichter blicken ernst in die Kamera. „Ich war 15“, erzählt die Jüdin. „Das Kleid hatte ich selbst genäht.“ Das klingt gewöhnlich. Doch dann setzt sie hinzu: „Es war zwei Stunden vor der Abfahrt.“ Zwei Stunden, bevor sich ihr Leben komplett änderte, die letzten zwei Stunden, in denen sie ihren Vater sah, der von den Nazis ermordet werden würde. Das Kölner Mädchen gehörte – wie seine Geschwister – zu den Kindern, die mit einem der sogenannten Kindertransporte nach England ausreisten, um vor den Nazis sicher zu sein.

Befragung der Zeitzeugin
Die Rettung gelang – und so sitzt die kleine, zierliche alte Dame an diesem Nachmittag am Tischchen zwischen Utta Brauweiler-Fuhr und Rainer Lemaire vom Schulreferat des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region, die sie als Zeitzeugin befragen, besser: zum Erzählen ermuntern. Es geht um die Kinderzeit in Köln, um die NS-Verfolgung, die Rettung und das Leben in England. Die Veranstaltung gehört als religionspädagogische Fortbildung zum Begleitprogramm der Ausstellung „Kinder abreisen 17 Uhr 13“, organisiert vom Lern- und Gedenkort Jawne in Köln. Bis Ende März waren viele großformatige Fotos, Videos und Info-Tafeln im Haus der Evangelischen Kirche zu sehen – und im Netz bleiben sie unter „www.kindertransporte-nrw.eu“ auch künftig sichtbar.

„Ich bin ein kölsch Mädchen!“
Etwa 50 ZuhörerInnen hängen an den Lippen der alten Dame, die lebhaft und überraschend gewitzt von ihrer Vergangenheit erzählt und zwischendurch über plötzlich neu auftauchende Erinnerungen selbst erstaunt ist. Obwohl die Jüdin in London heiratete und nie daran dachte, nach Köln zurückzukehren, ist sie der alten Heimat eng verbunden geblieben. Deshalb komme sie seit Kriegsende regelmäßig nach Köln, berichtet Rainer Lemaire, was die 90-Jährige schnell präzisiert: „Jedes Jahr!“ Ihr Selbstverständnis ist trotz des Holocaust und der Jahrzehnte in London ungebrochen. „Ich bin ein kölsch Mädchen!“, erklärt sie strahlend der Runde.

Sohn befreite sie vom Albtraum
Von Hennys Kindheit – sie wuchs nahe des Neumarkts auf, die Großeltern lebten am Thürmchenswall – und der Zeit der Verfolgung erfahren die Zuhörer nicht allzu viel, möglicherweise weil sich in der damaligen Kindersicht manches anders darstellte als für uns heute in der Nachschau, möglicherweise auch weil die Psyche einiges verdrängt hat. Vom Vater erzählt die 90-Jährige, dass er sein Schneidergeschäft als Jude schließen musste und dass ihm dann ein Schneider aus Deutz abends im Dunkeln heimlich Arbeit gebracht habe. Als Juden nicht mehr alles kaufen durften, hätten Nachbarn sie versorgt. Als Schreckgespenst hat sich jedoch in ihr Gedächtnis die Kristallnacht im November 1938 eingegraben. „Bei uns war das Kristall-Tag“, betont sie. Sie sei im Obergeschoss gewesen, als unten die Tür eingeschlagen worden sei. Erst im hohen Alter habe ihr Sohn, ein Hypnotiseur, herausgefunden, dass von diesem Erlebnis der Albtraum herrührte, der sie zeitlebens begleitet hatte: „Ich bin in meinem Haus, wo ich wohne, ich halte die Tür zu, es will jemand reinkommen, mich zerschlagen.“ Durch ihren Sohn konnte sie sich von dem Albtraum befreien.

Klibansky rettete 130 Schüler
Nach den Novemberpogromen wurde die Nazi-Gefahr für viele Juden offenbar. „Ihr fahrt nach England!“, habe die Mutter daher eines Tages verkündet, berichtete Henny Franks. Die Mutter hatte, was wohl nicht einfach war, erreicht, dass ihre Kinder mit den Kindertransporten nach England reisen durften, die Schulleiter Erich Klibansky für die Schüler des Kölner Gynasiums Jawne organisierte. Und dass, obwohl die Grünbaum-Kinder diese Schule gar nicht besuchten. Vier Transporte gelangen Klibansky, wodurch 130 Kölner Schülerinnen und Schüler gerettet wurden. „Wir haben uns gefreut“, erinnert sich Henny Franks an ihre Reaktion auf die Reise, die ihr als Abwechslung und Abenteuer erschien. Dass sie ihre Mutter, die mit dem Vater später nach Frankreich floh, erst als 24-Jährige wiedersehen würde, ahnte sie nicht. Auch nicht, dass die Franzosen den Vater an die Deutschen verraten würden, was seinen Tod bedeutete.

Gewehre im Auto
„Wir nennen uns immer noch Kinder“, sagt die 90-Jährige lächelnd – und meint all jene, die durch die von einem jüdischen Verein organisierten Kindertransporte überlebten. 19.000 wurden gerettet, wovon 10.000 von England aufgenommen wurden. Aus dieser Zeit in Henny Franks Leben erfahren die Zuhörer viel. Sie hören, dass die Kinder während des Transports auf den Bahnhöfen von fremden Leuten Butterbrote zugesteckt bekamen. Sie erzählt, wie sie mit 16 Jahren Knöpfe in der Fabrik annähte und später als Schneiderin arbeitete, dass sie im Krieg bei der Army den Führerschein machte und Autos mit vielen Anhängern fuhr, in denen sie nur ahnte, was drin war: Gewehre.

"Ich bin nie zu Hause"
Die in der Jugend entwurzelte Henny Franks ist umtriebig, vielleicht rastlos. „Ich bin nie zu Hause“, sagt sie. Unterwegs ist sie nicht nur in Köln, wo sie das Schulreferat-Team mit ihrer Fitness verblüfft, sondern auch im heimischen London, das sie durchstreift, wo sie sich mit anderen Überlebenden trifft und dessen Cafés sie mag. Ist sie mal daheim, bewegt sie sich im Internet, mailt und recherchiert nach Namen der Vergangenheit. Ihre Energie ist erstaunlich – und hat beim langanhaltenden Applaus am Ende der Veranstaltung längst das Taschentuch in ihrer rechten Hand ganz zerknüllt.

Infos zu Henny Franks und zu der Ausstellung „Kinder abreisen 17 Uhr 13“:
www.kindertransporte-nrw.eu

Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser