„Meine Lieblingsstelle bei Bach ist der Rotweinfleck im Faksimile der Matthäuspassion“. Dies war vor einigen Jahren die schlagfertige und natürlich nicht ganz ernst gemeinte Antwort eines renommierten Kölner Bach-Forschers während eines Live-Interviews im WDR3. Der Redakteur hatte dem Professor vorher die Frage gestellt, welche Werke von Johann Sebastian Bach er als Musikwissenschaftler kompositorisch besonders schätze. Er und das Radiopublikum dürften von der unerwarteten Antwort einigermaßen überrascht gewesen sein. Denn ganz offenbar war der große Thomaskantor dem Wein nicht ganz abgetan – zumindest zeugen davon bis heute ein paar Spritzer des roten Rebensaftes, die sich nun bereits fast dreihundert Jahre in der Originalhandschrift erhalten haben. Dass auch heute hervorragende Musik und – in diesem Fall – Glühwein eine ähnlich gute Verbindung eingehen können – davon zeugte die Gesamtaufführung aller sechs Teile des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach in der Kölner Trinitatiskirche. Hierzu hatte am zweiten Advent die Kartäuserkantorei in Kölns größte Kulturkirche eingeladen. Viele hundert Zuhörerinnen und Zuhörer waren gekommen und sorgten für eine bis auf den letzten Platz besetzte Trinitatiskirche.
Bach schrieb sein berühmtes Weihnachtsstück, indem er sechs eigenständige Kantaten zusammenfasste und in den sechs Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag 1734 und dem Epiphaniasfest 1735 in Leipzig aufführte. Dass das imposante und klangvolle Werk heute fast nur noch in Konzerten zu hören ist, hat vornehmlich zwei Gründe. Einerseits sind die Kosten für gute Musiker und Solisten sehr hoch und nur über üppige Eintrittsgelder zu refinanzieren und andererseits sind zahlreiche Passagen der Chorpartitur so schwer zu singen, dass es dafür durchaus eines versierten Chores bedarf. Die Kartäuserkantorei ist ein routinierter und altersmäßig gemischter Chor, dessen Sängerinnen und Sänger die für eine solide Bach-Aufführung notwendigen sängerischen Qualitäten mitbringen. Die Kantorei wurde vor über 45 Jahren von Peter Neumann gegründet und hat seitdem im Kölner Musikleben einen festen Platz. Gemeinsam mit seinen 56 Sängerinnen und Sängern hatte er sich der Mammutaufgabe gestellt, in einem Konzert alle sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums aufzuführen.
In der großen Pause nach dem dritten Teil sorgten der Glühwein und weitere vorweihnachtliche Erfrischungen für eine angenehme vorweihnachtliche Stimmung und einen regen Gedankenaustausch zwischen Publikum und Ausführenden. Zur Auswahl der Solisten für die Kölner Aufführung kann man Paul Krämer nur gratulieren. Mit Anna Herbst (Sopran), Julia Spies (Alt), Joachim Streckfuß (Tenor) und Matthias Hoffmann (Bassbariton) hatte er ein ausgezeichnetes und zugleich junges Ensemble zusammengestellt. Obwohl sich bis auf die Sopranistin alle noch im Studium befinden, zeigten sie großartige Leistungen und überzeugten mit feinem Klang, schöner Intonation und kluger Gestaltung ihrer Partien. Besonders hervorzuheben ist dabei der Tenor Joachim Streckfuß, der mit seinem lyrischen und schöngeistigen Gesang die Evangelisten-Partie hervorragend betreute und den weiten Kirchenraum angenehm füllte. Das Orchester „Concerto con Anima“ ließ ebenfalls keine Wünsche offen. Dieses von Konzertmeisterin Ingeborg Scheerer geprägte Ensemble besteht seit 2007 und hier wirken Spezialisten für Alte Musik zusammen, die allesamt Solistenqualitäten haben. Dies führte zu drei Stunden ungetrübtem Hörvergnügen, weil Schönklang, subtile Intonation und saubere Artikulation zusammenkamen.
Foto(s): Wolf-Rüdiger Spieler