Ein beliebter Eiskunstlauftrainer ist gestorben. Beim Leichenschmaus machen sich die Gäste ihre Gedanken über den Tod: „Für meine Uroma kam er wie eine Erlösung“, sagt ein Mädchen. Ein Junge hat eher „ein kaltes, leeres Gefühl“, spürt die Leere des Universums. Eine Frau sagt: „Manchmal denke ich, ich kann gar nicht sterben“. Ein älterer Herr ist der Ansicht, die Angst vor dem Tod sei sinnlos: „Der ist ja eine zwangsläufige Folge unserer Geburt.“
Unversehens haben sich da schon zwei Männer, unsichtbar wie Engel, unter die Trauergemeinde gemischt: Einer von ihnen wird in den kommenden 70 Minuten die vagen Hoffnungen und Tröstungen der Trauernden mit harten Fakten konfrontieren, der andere wird Johann Sebastian Bachs Kantate „Ich habe genug“ singen.
Ungewöhnliches Musiktheater-Projekt
Nach der viel beachteten szenischen Aufführung der Johannespassion im vergangenen Jahr hatten der Katholikenausschuss in der Stadt Köln und der Evangelische Kirchenverband Köln und Region auch in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Alte Musik (zamus) wieder ein ungewöhnliches Musiktheater-Projekt initiiert, das am Wochenende in der Kölner Trinitatiskirche aufgeführt wurde.
Freudig den Tod erwarten
Eine Besonderheit des Projekts „Ich habe genug“ sind die Beteiligten, denn geschrieben und gespielt wurde das Stück von 13- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schülern einer inklusiven Schulklasse der Offenen Schule Köln, sowie von einer Gruppe von Seniorinnen und Senioren des Experimentalchors „70+“. Im Fach „Darstellen und Gestalten“ setzten sich die Jugendlichen, theaterpädagogisch angeleitet, mit der barocken geistlichen Musik der Bachkantate BWV 82 und dem Thema „Tod und Sterben“ auseinander. Und die hat es für heutige Ohren ja in sich. Der Sänger erwartet freudig den Tod, will aus Not und Elend „von hinnen“ scheiden, in die ewige Ruhe und den Frieden Gottes.
Barockepoche versus 21. Jahrhundert
Ganz anders war das Lebensgefühl der Barockepoche, als Kriege, Epidemien und Hungersnöte an der Tagesordnung waren, dafür eine stabile Jenseitserwartung Trost spendete. Doch auch wenn in der neuzeitlichen Diesseitigkeit gesunde Ernährung und regelmäßige sportliche Betätigung eine möglichst lange Verweildauer auf Erden garantieren sollen: Der gleich in der ersten Arie der Kantate thematisierte Lebensüberdruss ist den Heutigen keineswegs fremd.
Tischgemeinschaft benennt Probleme
„Ich habe genug“ wiederholen die jungen Leute der Tischgemeinschaft nach diesem ersten „Kantaten-Einschub“ und benennen ihre Probleme: Das Alleinsein, die eigene Schüchternheit, der Schulstress, die Ungerechtigkeit und Kriegsberichte in den Nachrichten werden angesprochen, während die Älteren die verbleibende Zeit nutzen möchten, um noch einmal Walzer zu tanzen oder sich zu verlieben.
Dissonanz und Brüchigkeit
Laien und Profis gestalten die Aufführung gemeinsam: Das achtköpfige Zamus-Ensemble unter Leitung der Oboistin Xenia Löffler, das den Bariton Seth Carico in den Bach-Passagen begleitet, unterlegt diese Szenen der Tischgemeinschaft, die mitten in der Kirche platziert ist, jeweils mit Teilen des Musikstücks „Omega“, das der Komponist Martin Bechler eigens für diese Aufführung komponiert hat. Sanfter, einschmeichelnder als die strenge, elegische Barock-Kantate wirkt diese Musik häufig, zerfällt aber immer wieder zu Dissonanzen. Und wenn Regisseurin Meyer dazu ihre Laien-Schauspieler mit wackeligen Stimmen Lied-Texte wie „Nun ist er fortgegangen“ oder „Die Welt ist aus den Fugen“ singen lässt, unterstreicht das noch die Brüchigkeit, die Verdrängungen und Unsicherheiten des Denkens, sobald es um die letzten Dinge geht.
Verdikt des Physikers Hawking
Der zweite „Engel“, dargestellt durch den Schauspieler Torsten Peter Schnick, wandelt dann durch die Reihen und erinnert boshaft an die Errungenschaften der Moderne. An das Verdikt des Physikers Stephen Hawking etwa, der das Gehirn des Menschen für eine Art Computer hält, der nach dessen Tod eben abgeschaltet wird, auch an die generelle Vereinzelung in der Gesellschaft oder daran, dass auch die Sterbehilfe unter strenge gesetzliche Auflagen gestellt ist. „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“, singt der „Engel“ spöttisch.
Vorgelesen und zerrissen
Unter solchen Voraussetzungen wirken die auf Zettel notierten „Antworten“ der Tischgemeinschaft auf die Schlussarie der Kantate mit den provozierenden Worten: „Ich freue mich auf meinen Tod, Ach, hätt er sich schon eingefunden. Da entkomm ich aller Not, die mich noch auf der Welt gebunden“ allzu vorläufig. „Ich habe nie genug davon, Klavier zu spielen, das macht mich stolz und glücklich“, heißt es da, „… Eis zu essen und im Bett Videos zu schauen“ oder „…mit Freunden Spaß zu haben“ steht darauf, sie werden vorgelesen und gleich wieder zerrissen. Auch vom „Aufgehobensein in der Gnade Gottes“ ist die Rede.
Großer Ernst und Intensität
„Ich habe genug“ ist ein nachdenkliches Stück, das sich traut, wichtige Fragen zu stellen, und das sich traut, Jung und Alt, Laien und Profis auf die Bühne zu bringen. So lebten beiden Aufführungen in der ausverkauften Trinitatiskirche vom großen Ernst und der Intensität der beteiligten Schauspieler und Musiker und wurden vom Publikum mit anhaltendem Applaus bedacht.
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Unterstützt wurde das Mehr-Generationen-Projekt durch Spenden der AntoniterSiedlungsgesellschaft mbH (ASG), der Sparkasse KölnBonn, der RheinEnergieStiftung Kultur, der SK Stiftung Kultur, derBeatrix-Lichtken-Stiftung, der Annemarie und Helmut Börner-Stiftung und der Fricke-Stiftung für Kultur und Bildung.
Foto(s): Anna Siggelkow