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Attentate und Amokläufe, Hass und Aggressionen

Attentate und Amokläufe erschüttern die Menschen. Wie verstehen Christinnen und Christen die Existenz unfassbarer Gewalt? Wie gehen sie mit der Angst vor ihr um? Interview mit Cornelia Richter, Professorin für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

Als Ursachen der aktuellen Serie von Aggressionen nennen Experten unter anderem Erkrankungen der Täter, von ihnen erlittene Misshandlungen in der Kindheit und ihre soziale Ausgrenzung. Doch kann man Gewalt überhaupt ergründen?
Das Entstehen der Gewalt kann wenigstens ein Stück weit erforscht werden. Es gibt viele Erklärungen für Hass und überbordende Aggression. Da es sich bei diesen um sehr elementare anthropologische Phänomene handelt, sind entsprechend viele wissenschaftliche Disziplinen damit befasst – und das ist auch gut so. Denn die interdisziplinäre Zusammenarbeit zeigt immer deutlicher, dass es sich um bio-psycho-soziale Phänomene handelt, die von der Entwicklungspsychologie und den Neurowissenschaften ebenso behandelt werden müssen wie von der Soziologie und den Geisteswissenschaften.

Was nützen wissenschaftliche Erklärungen angesichts getöteter Menschen?
Solche Erklärungsansätze sind in keinem Fall zu verwechseln mit Entschuldigungen im Sinne von Ent-Schuldungen. Sie heben die individuelle Verantwortlichkeit der Täter nicht auf. Doch sie helfen uns zu verstehen, unter welchen Bedingungen das Gewaltpotential leichter zu entfachen oder präventiv zu beruhigen sein könnte. Angesichts der Komplexität dieser Phänomene wird es nie nur die eine oder nur die andere Erklärung geben, sondern unterschiedliche Deutungsansätze, die interdisziplinär weiterentwickelt werden können.

Im christlichen Menschenbild gelten solche Erklärungen jedoch nicht, da es vom grundsätzlich Bösen in jedem Menschen ausgeht.
Dass die vielfältigen Erklärungen „im christlichen Menschenbild“ nicht gelten, will ich so nicht stehenlassen. Anthropologischen Bedingungen unterliegen Christinnen und Christen wie alle anderen Menschen auch. Es gibt außerdem weder in der Bibel noch in der christlichen Tradition ein einheitliches Menschenbild. Daher hat sich in den letzten Jahren zu Recht ein umfassender theologischer und religionsphilosophischer Diskurs zur Frage des Bösen entwickelt. Eine der Grundkonstanten im christlichen Glauben ist freilich die Einsicht, dass wir als Menschen unausweichlich egozentrisch sind. In dieser Ich-Bezogenheit bleiben wir selbst dann verhaftet, wenn wir uns ganz und gar auf andere Menschen oder auf Gott beziehen möchten.

Das sogenannte Böse im Menschen wird mit dem Geschehen um Adam und Eva gemeinhin als Sündenfall tradiert. Ausleger wie Immanuel Kant, Sören Kierkegaard oder jüngst Bernd Oberdorfer sehen in dieser Geschichte jedoch keine historische Erklärung für das Entstehen der Sünde, sondern eine Deutung der menschlichen Ambivalenz: Der Mensch weiß um Gut und Böse, er nimmt sich und seine Umwelt wahr, muss sie einordnen und beurteilen – kurz: Er handelt frei. Aber genau das bringt ihn immer wieder an seine Grenzen.

Der christliche Begriff der Sünde beschreibt die Wechselbeziehung zwischen der leiblichen Verfasstheit des Menschen, seinem Willen, seinem Intellekt und all seinen Emotionen. Und dem Menschen ist dieses Wechselspiel bewusst: „Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Diese Einsicht aus Römer 7,19 ist einer der Spitzensätze der Sündenthematik.

Angesichts der Attentate und Amokläufe nehmen wir also auch unser eigenes Gewaltpotential wahr?
Wir sehen mit ihnen sicherlich unsere eigene Ambivalenz und schauen in einen potenziellen eigenen Abgrund. Dieser mögliche Abgrund kann nicht ernst genug genommen werden – deshalb wäre es theologisch töricht, jemals auf den Begriff der Sünde verzichten zu wollen. Denn der Sündenbegriff ist und bleibt eine wichtige Mahnung und eine Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens- und Handlungsspielraums. Aber zugleich gilt: Wir können lernen, mit der eigenen potentiellen Gewalttätigkeit umzugehen. Jedes Kind muss lernen, seine unmittelbare Willens- und Gefühlswelt allmählich zu kontrollieren, sie zu artikulieren und in kompromissbereites Handeln mit anderen zu überführen.

Nicht jedes Gewaltpotential in uns muss zwangsläufig zum Ausbruch kommen. Mir scheint, es kommt vor allem dann nicht zum Ausbruch, wenn wir uns der Gefährdung bewusst sind. Im christlichen Glauben geschieht dies vorzüglich dann, wenn wir unser Leben bewusst vor Gott stellen; wenn wir uns selbstreflexiv fragen, ob wir eigentlich alles uns Mögliche tun, um Gottes Zutrauen in uns gerecht zu werden. Und wir erahnen, dass wir eben nicht alles uns Mögliche zu tun vermögen. Neben aller Reflexion führt uns diese Einsicht im täglichen christlichen Leben konsequenterweise in die Bitte an Gott, uns in unseren Entscheidungen zu leiten und uns einst ganz aus dieser Egozentrik zu erlösen.

Hilft der christliche Glaube gegen die Angst vor der Gewalt?
Die Gewaltexzesse, die wir in den letzten Jahren zunehmend als Bedrohung der ungewöhnlich langen Friedenszeit in Europa wahrnehmen, sind ohne Zweifel erschreckend und aufrüttelnd. Dabei ist uns nur der Terror näher gerückt, unter dem Menschen in anderen Teilen der Welt leider und in unvergleichlich höherem Ausmaß schon lange leiden. Wir leben nach wie vor unendlich privilegiert. Daher bemühe ich mich selbst um rationales Abwägen: Nach wie vor ist es für uns statistisch sehr viel wahrscheinlicher auf der Autobahn zu sterben als durch einen Anschlag.

Der christliche Glaube hilft uns in der Angst auf vielfältige Weise: Zum einen haben wir mit den biblischen Texten seitenweise Geschichten vor Augen, die von Flucht und Gewalt, von Migration und Armut, Exklusion und Inklusion, von unentschiedenem Stillhalten und unerwartetem Engagement erzählen. Zum anderen haben wir eine Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten für die eigene Unsicherheit und Angst zur Hand: Psalmen, prophetische Berufungsgeschichten, Hilfeschreie in den Evangelien und viele moderne Gebete legen uns Worte in den Mund, die wir nachsprechen können, wenn es uns die Sprache verschlagen hat.

In und mit all diesen Texten kommt schließlich ein Drittes zum Tragen, das ich als die stärkste Kraft des christlichen Glaubens empfinde: Unser Glaube ist fundamental an die Einsicht gebunden, dass Gottes Zusage und Fürsorge angesichts unseres fragilen, menschlichen Lebens gilt, dass sich neues Leben nur durch den Tod hindurch zeigt, und dass die unvollkommene Endlichkeit offenbar Voraussetzung ist für jene vollkommene Unendlichkeit, die wir erhoffen und ersehnen. Das macht Angst, Leid und Tod um nichts besser als sie sind. Doch mit dem vielfältigen biblischen Zeugnis, dass die Zusage Gottes über lange Zeiten und weite Kulturkreise hinweg Menschen im Leben getragen hat, kann uns der Glaube Hoffnung spenden. Diese Hoffnung befähigt uns, das Leben mit der nötigen Rationalität und dem ebenso nötigen kritischen Engagement zu bewältigen.

Welches Engagement können Christinnen und Christen der Gewalt entgegensetzen?
Wir können und müssen uns ganz konkret in unserem nächsten Umfeld für die Gewaltprävention einsetzen, und entschieden für jene Freiheitswerte eintreten, die sich in Europa in einer langen und mühevollen Entwicklung etabliert haben. Wir sollten uns vor allem nicht reflexhaft wegducken in der irrationalen Sehnsucht, dass „das alles“ einfach aufhören möge. Wir sollten die Gefahr nicht einfach ausblenden, indem wir etwa ab morgen einen anderen Weg zur Arbeit nehmen als den durch das bevölkerte Einkaufszentrum. Denn es wäre wenig gewonnen, wenn wir öffentliche Plätze für jene freigeben, die sie mit subtiler Gewaltdrohung erobern wollen.

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Im letzten Jahr war Cornelia Richter auf Einladung der Melanchthon-Akademie und der „Stiftung Allgemeinmedizin“ zu Gast im Haus der Evangelischen Kirche in Köln. Dort hielt sie einen gleichermaßen fachlichen wie auch emotional berührenden Vortrag zum Thema „Ohnmacht, Angst und Sorge – klinische Belastungen aushalten“. Sie berichtete von ihren Erfahrungen mit todkranken Menschen.

Text: Sabine Eisenhauer/knap
Foto(s): Universität Bonn