Liebe Gemeinde,
Heiligabend. Mit welcher Sehnsucht und Unsicherheit sind wir auf diesen Abend zugegangen! Endlich durchatmen, aufatmen nach den vielen Monaten voller Sorge. Hinter uns lassen, was unser Leben bedrängt. Ankommen im Heiligen Abend. Unser Leben im Licht dieses Festes deuten lassen mit soviel Vertrautem wie möglich. Dingen, Personen, Geschehnissen ihren richtigen Platz zuweisen. Manches was übermächtig groß war, erweist sich heute als wenig bedeutsam. Manches, was wir fast nicht wahrgenommen haben, bekommt in diesem Licht eine andere Bedeutung. Zuwendung, Freundschaft, Zeit mit Menschen. Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit, Resonanzräume für Empfindungen. Der uns begleitende Segen Gottes. Am Heiligen Abend sortiert sich unser Leben neu. Denn nicht mehr unser Alltag ist das alles bestimmende Maß, sondern die Wirklichkeit des Höchsten und seine Ankunft in dieser Welt.
Aufgerichtet werden wir an diesem Abend, weil unser Blick freier wird für das, was im Leben zählt und in schweren Zeiten trägt.
Der Predigttext erzählt von Bethlehem. Ich lese die Verheißung aus dem Buch Micha im 5. Kapitel, Vers 1 – 4a in der Übersetzung der neuen Basisbibel:
„Du aber, Betlehem Efrata, bist zu klein, um zu den Landstädten Judas zu zählen. Doch aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein wird in Israel. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit, seine Herkunft steht von Anfang an fest. – Darum wird die Not nur so lange anhalten, bis eine Frau das Kind zur Welt gebracht hat. … Er wird auftreten und sein Volk weiden. Dazu gibt ihm der Herr die Kraft und die Macht. Sie liegt in dem Namen des Herrn, seines Gottes. Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können. Denn seine Macht reicht bis zum Rand der Welt. Und er wird der Friede sein.“
Diese Worte waren auch den ersten – zumeist jüdischen – Anhängern Jesu bekannt und sie waren bald davon überzeugt, dass Jesus von Nazareth eben dieser ersehnte „Messias“, auf Griechisch „Christus“ ist. Seither beziehen Christen auch die Worte von Micha auf Jesus – Jüdinnen und Juden sehen das anders. Auf die Verheißung von Micha hoffen wir aber zusammen. Also dass Frieden sein wird und alles Brüchige und Schmerzhafte überwunden sein wird.
Ich finde die Worte von Micha wunderbar, um Weihnachten besser zu verstehen: Hier zählt nicht, was vor Augen ist: Nicht das große prächtige Jerusalem mit seinem Tempel und all den Palästen.
Dort haben die Weisen aus dem Morgenland nur den machtbesessenen, skrupellosen König Herodes gefunden. Der Stern steht aber über einem Stall im kleinen Bethlehem, und die Sterndeuter bringen ihre kostbaren Gaben einem machtlosen kleinen Kind. Bei ihm finden sie Gottes Macht und Heiligkeit. Gegen allen Augenschein wird dieses Kind Licht ins Dunkel bringen.
Was ist denn der Augenschein? Eine Zeit im Umbruch. Eine Gesellschaft in der Zeit der Pandemie. Menschen in Sorge, zuweilen in Angst vor den Corona-Varianten. In etlichen Branchen Existenzangst wegen der wirtschaftlich unsicheren Entwicklung. Eine paradoxe Zeit, der zweite Coronawinter: Kontaktbeschränkungen, erschwerte Arbeitsbedingungen, Gedanken über einen neuen Lockdown, Verzicht auf viele Aktivitäten und Begegnungen, Impfungen und Testnachweise.
All diese Maßnahmen legten und legen sich um unser Leben wie eine Fessel, oder je nach Betrachtung, wie ein Sicherheitsgurt, um uns vor dem Abgrund zu schützen. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen: Viele leben in großer Angst und Sorge bis hin zu den genauen Planungen, wen sie wie an diesen Tagen treffen. In nicht wenigen Familien findet ein heftiger Streit zwischen Geimpften und Ungeimpften statt.
Der frühere Bundestagspräsident Schäuble hat in der Anfangszeit der Pandemie gesagt: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar.“ (26.4.2020)
Die Menschenwürde und die Nähe von Menschen zählen. Dafür brauchen wir die Maßnahmen und das Impfen. Wir stellen auf dieser Grundlage die Fragen nach Freiheit und Verantwortung, noch drängender als sonst.
Was ist denn wirklich wichtig? – „Was gibt mir Halt?“, Was soll das alles bedeuten?“, – danach fragen aktuell die großen weltlichen Blätter und Magazine. Im „Stern“ von letzter Woche: „Was gibt mir Halt?“ Und im ZEIT-Magazin: „Lebenssinn – das große Warum“. Expertinnen und Experten und Personen des öffentlichen Lebens geben ihre Einschätzungen preis. Diese Tage funktionieren offenkundig wie ein Teilchenbeschleuniger: Offene Fragen, die einen das ganze Jahr über umtreiben, werden mit besonderer Energie nochmals angestoßen und wie ein Lichtpunkt gebündelt.
Können wir zusammenfinden in der Einsicht, wie die Werte Verantwortung und Freiheit, Gesundheit und Gemeinschaft, individuelle Einsicht und Regelbedarf in eine Balance kommen? Oder passiert das andere, dass Menschen und Positionen einander immer unversöhnlicher gegenüberstehen? Es kann schon erschrecken, wie massiv Meinung auf Meinung, Haltung auf Haltung trifft. Die Spaltungen durch sogenannte Querdenker, durch Verschwörungstheorien, Wissenschaftsverweigerer sind so tiefgreifend wie lange nicht mehr.
Wie leben wir mit der Angst und den Spannungen? Es intervenieren nicht nur kluge Publizisten, sondern eben auch unsere Worte des Propheten Micha zu Bethlehem und dem kleinen Kind. Es wird ein gerechter Herrscher sein, der für Gerechtigkeit und Frieden sorgt. Kein Despot, dem es um seine eigene Macht geht. Er wird der Not ein Ende machen, wird für die Bedürfnisse der Menschen sorgen, wie ein Hirte für seine Schafe. Das ist nicht auf den ersten Blick zu sehen, aber Gott sieht weiter und tiefer. So sind manche Sachen für stolze Menschenkinder nicht zu erkennen. Es sind die Maßstäbe des Höchsten, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.
In diese unsichere Zeit hinein kommt Gott hinein. In unsere Sorgen und unsere Überforderung.
„Tobe Welt und springe“, schreibt der Liederdichter Johann Frank im Lied „Jesu meine Freude“.
„Tobe Welt und springe; ich steh hier und singein gar sichrer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen!“
Das kleine Bethlehem in der Verheißung des Micha und die Weihnachtsgeschichte zeugen davon, dass diese Unruhe, das Toben und die Angst nicht alles sind. Sie zeugen davon, dass Gottes Frieden und Gottes Zukunft weiter reichen als unsere Augen sehen können. Sie weisen das Toben in die Schranken. Damit sind wir am anderen Ende des weihnachtlichen Bogens angekommen: Die Ankündigung des Friedenskönigs passt gut mit der weihnachtlichen Krippenszene zusammen.
Sie antwortet auf die Fragen:
- Wie bestehen wir im Wandel der Zeit?
- Was trägt uns, wenn unser Gang schwankend ist?
In der Weihnachtsnacht und an der Krippe ist Platz für das Paradoxe unseres Lebens. „König und Baby im Futtertrog“ passt nicht zusammen. „Ein Stall erhellt das Dunkel?“ Es ist paradox. Aber das ist das Leben doch auch! Das Leben ist nicht gradlinig. Wir können uns höchstens im Rückblick einen Reim darauf machen und für uns die Dinge so deuten, dass wir damit in Frieden leben können.
So deuten, dass wir leben können mit Abbrüchen, Verlusten und Neuanfängen:
- belastet und zugleich frei,
- gebunden und zugleich beflügelt,
- demütig und zugleich gelassen als Kinder Gottes,
- balancierend und vertrauend,
- ganz bei uns und doch so, dass wir einander wahrnehmen.
Das können wir tun als Menschen, denen zugesagt wird: „Fürchtet euch nicht, denn ich bin mit euch.“ Im Hören auf das, was uns gesagt wird, verlieren wir die Furcht.
Die Furcht darf an ihr Ende kommen, denn aus der kleinen Stadt Bethlehem hören wir:
„Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Amen.
Foto(s): Ebels