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400 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Mülheim am Rhein: Lebendige Gemeindegeschichte aus Sicht ehemaliger Pfarrer – Gespräch mit Dietrich Grütjen

Geschichte, sozusagen aus erster Hand – das ist ein Aspekt der zahlreichen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr „400 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Mülheim am Rhein„. In einer Predigtreihe treten noch einmal fünf Pfarrer und eine Pfarrerin, die in der Gemeinde gearbeitet und gewirkt haben, an die Kanzel der Friedenskirche. Von der jüngeren Vergangenheit der Protestanten in Mülheim erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer so eine ganze Menge, je nachdem, wie die Predigt angelegt ist. Und ganz bestimmt kommt es zu einem Wiedersehen mit alten Weggefährten und Weggefährtinnen.

Alte Predigt von 1790 aufgetrieben
Den Auftakt machte am 31. Januar Pfarrer Dietrich Grütjen. Bei seiner Predigt ging es allerdings viel weiter zurück als in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Grütjen machte etwas, „was man normalerweise nicht macht und was ich auch noch nie gemacht habe“, so der Pfarrer: Er hielt eine Predigt, die ein anderer geschrieben hat: Johann Gustav Burgmann kam 1774 als 30-jähriger Pfarrer nach Mülheim an die damalige Andreaskirche. 1780 veröffentlichte er ein Predigtbuch, das große Kontroversen auslöste und bei der katholischen Fronleichnamsprozession, der „Mülheimer Gottestracht“, zu einer der berüchtigtsten Kontroverspredigten unter dem Titel „Kein Protestant kann selig werden“ führte. Die wiederum hatte eine gerichtliche Auseinandersetzung zur Folge, „eine der letzten großen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken in Mülheim“, erzählt Grütjen. 1784 vernichtete eine große Eisflut die erste protestantische Kirche, zwei Jahre später wurde die neue Andreaskirche, die heutige Friedenskirche, eingeweiht, deren erster Pfarrer Johann Gustav Burgmann war.

Religion mit Herz, nicht nur mit dem Kopf
Über einen Nachfahren dieses charismatischen Theologen, Robert Pieper, früher Pfarrer in Nippes, kam Grütjen an private Aufzeichnungen von Burgmann, unter anderem eine Predigt aus dem Jahr 1790 über den Psalm 42: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, nach Dir“. Gekürzt, ansonsten aber in der Originalsprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts, trug Grütjen diese Predigt zum Auftakt der Reihe vor. „Darin wendet sich Burgmann gegen eine Religion der Vernunft und Moral. Stattdessen plädiert er für eine Religion der inneren Betroffenheit. Religion mit Herz statt nur mit dem Kopf“, erläutert der frühere Mülheimer Pfarrer den Inhalt. Bei dem Gottesdienst verwendete er die Liturgie, die in einer Agende aus dem Jahr 1834 aufgeführt wird. Auch die musikalische Begleitung durch die Mülheimer Kantorei unter der Leitung von Christoph Spering orientierte sich an dieser historischen Liturgie. „Es ist eine historische Reise, für die ich mir interessiertes Wohlwollen erhoffe“, schmunzelt Grütjen. Wenngleich sprachlich schwierig, sei die Predigt inhaltlich interessant und auch heute noch aktuell.

„Zustände wie im Schlaraffenland“
Der in Duisburg geborene und in Niederwambach im Westerwald aufgewachsene Dietrich Grütjen trat 1974 seine erste reguläre Pfarrstelle in der Kirchengemeinde Mülheim am Rhein an. „Die Stelle habe ich damals bewusst ausgesucht“, erinnert er sich. Durch seinen Vorgänger Helmut Aston hatten die Mülheimer den Nimbus einer progressiv-fortschrittlichen Gemeinde. Das Engagement im sozialen Brennpunkt rund um die frühere Hacketäuer-Kaserne hatte sich über die Grenzen Kölns hinaus herumgesprochen, und Aston erlangte sogar bundesweite Aufmerksamkeit, als er sich weigerte, seine Kinder taufen zu lassen. „Das alles waren Ereignisse, die einem jungen Pfarrer wie mir, voller Ideale, der 1968 in Heidelberg studiert hatte und die Welt verbessern wollte, stark imponiert haben“, berichtet Grütjen. Hinzu kam die damals noch imponierende Größe der Gemeinde: Rund 15.000 Gemeindeglieder, fünf Pfarrstellen und fünf Gemeindezentren. Zu dieser Zeit gab es auch noch genug freie Pfarrstellen, und Grütjen hatte keine Mitbewerber. „Das waren Zustände wie im Schlaraffenland.“

Gemeinde mit zwei Fraktionen
Doch schnell erkannte der neue Mülheimer Pfarrer, dass seine Wunschvorstellung und die Realität stark auseinanderklafften. In der Gemeinde gab es starke Auseinandersetzungen zwischen dem sozialpolitisch engagierten Flügel um Pfarrer Aston und eher pietistisch ausgerichteten Gemeindegliedern. „Die Presbyteriumssitzungen waren oft sehr harte Auseinandersetzungen“, schildert Grütjen. In seinem zweiten Jahr, gerade 28 Jahre jung, wurde er Presbyteriumsvorsitzender und hatte die schwere Aufgabe, in den zahlreichen Konflikten eine Leitungsaufgabe zu übernehmen. Dabei fand er, der als Student an politischen Go-Ins teilgenommen hatte, sich plötzlich und ungewollt auf der anderen Seite wieder. „Wegen eines Kündigungsverfahrens gegen eine Jugendmitarbeiterin im sozialen Brennpunkt stürmten plötzlich die Anhänger der Mitarbeiterin eine Sitzung, und ich musste das Verhalten der Gemeindeleitung verteidigen“, erzählt Grütjen.

Wechsel in die Krankenhausseelsorge
Neben den inhaltlichen Problemen in der Gemeinde waren es auch andere Umstände, die ein funktionierendes Gemeindeleben stark behinderten. „Mülheim befand sich damals schon am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie in Köln.“ Wer es sich leisten konnte, zog in andere Stadtteile. Es gab immer weniger Menschen, die sich in der Gemeinde engagieren wollten oder konnten. „Auch am Wochenende verließen viele Leute den Stadtteil und fuhren auf den Campingplatz.“ Allein in seiner Zeit ging die Zahl der Gemeindeglieder um etwa 3.000 zurück. Enttäuscht von diesen Widrigkeiten in der täglichen Arbeit, kehrte auch Grütjen der Mülheimer Gemeinde den Rücken. 1981 wechselte er in die Krankenhausseelsorge in der heutigen LVR-Klinik in Merheim, wo er bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr arbeitete.

Rückkehr als Spurensucher
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kehrte er jedoch auf eine ganz andre Art wieder zurück: „Mit einigen Patientinnen und Patienten wollte ich über den evangelischen Friedhof an der Bergisch Gladbacher Straße gehen. Dazu brauchte ich natürlich Informationen.“ So begann seine Forschung an der umfangreichen Geschichte der Mülheimer Gemeinde. „In meiner Zeit als Pfarrer habe ich das Archiv kein einziges Mal betreten“, schmunzelt Grütjen rückblickend. Das änderte sich nun, und der frühere Mülheimer Pfarrer begab sich auf eine intensive Spurensuche. Davon zeugen unter anderem ein Beitrag in dem Buch zum Jubiläum und die ungewöhnliche Predigt, die er nun hielt.

Predigtreihe läuft bis Oktober, nächster Termin: 21. Februar
Die Predigtreihe mit ehemaligen Mülheimer Pfarrerinnen und Pfarrern im Jubiläumsjahr läuft das ganze Jahr über. Nächster Termin ist Sonntag, 21. Februar – da predigt Wieland Wiemer, gefolgt von Helmut Aston am Sonntag, 21. März. Johannes Voigtländer ist am Sonntag, 18. April, an der Reihe, und Gieselheid Bahrenberg blickt am Sonntag, 20. Juni, auf ihre Zeit in Mülheim zurück, danach ist Martin Prang am Sonntag, 18. Juli, an der Reihe. Beendet wird die Reihe von Karl-Heinz Haverkamp am Sonntag, 17. Oktober. Beginn dieser besonderen Gottesdienste ist jeweils um 11 Uhr in der evangelischen Friedenskirche, Wallstraße 70.

Text: Jörg Fleischer
Foto(s): Fleischer